Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie
3 Die Kernelemente von Kants Friedenskonzept
4 Ist Kants Friedenskonzept noch gültig ?
5 Der „ewige Frieden“ als unvollendete Aufgabe
6 Literatur

2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie

Zunächst zur historischen Bedeutung: Zwei wichtige Neuerungen sind es, die die politische Philosophie von Kants Friedensschrift auszeichnen: Die erste Neuerung besteht darin, dass Kant den Krieg als solchen als moralischen Skandal betrachtete. Dies ist bei Kant nun nicht nur im Sinne einer Anklage oder eines moralischen Appells zu verstehen, wie wir ihn auch bei Vorgängern wie z.B. in der Friedensschrift des Erasmus von Rotterdam antreffen.[4] Vielmehr ergibt sich für Kant aus dieser Wertung eine unmittelbare Pflichtaufgabe zur Beendigung dieses Kriegszustandes. Das eben ist neu: Dass Kant den Krieg nicht mehr als schicksalhaftes Ereignis versteht, dessen Wiederkehr so unvermeidlich ist wie die von Naturkatastrophen, sondern als menschengemachtes Übel, das durch eine menschliche Anstrengung überwunden werden kann und muss.

Die Vorstellung, dass der Krieg endgültig überwindbar ist, kann man sehr wohl als eine politische Utopie bezeichnen. Aber es gibt einen wichtigen Unterschied zwischen Kants Utopie und den Utopien anderer politischer Philosophien oder Weltanschauungen. Kants Utopie - dies ist die zweite wesentliche Neuerung - ist eine realistische Utopie. Eine Utopie kann als realistisch bezeichnet werden, wenn zwei Bedingungen erfüllt sind: Erstens muss der vorgestellte utopische Zustand unter realistischen Bedingungen, d.h. insbesondere ohne dass man beispielsweise einen dramatischen Wandel der menschlichen Natur zum sittlich Besseren voraussetzt, als möglich erachtet werden können. Zweitens muss es einen denkbaren Entwicklungspfad vom gegenwärtigen Zustand zum utopischen Zustand geben. Kants Friedenskonzept berücksichtigt beide Bedingungen: Der ersten Bedingung trägt Kant Rechnung, indem er den zu erringenden Frieden durch einen föderalen Friedensbund stützen will. Ein möglicher Entwicklungspfad ist für Kant dadurch gegeben, dass sich der Friedensbund, angefangen von einer Föderation einzelner Republiken, schrittweise zu einem Weltfriedensbund erweitern kann.[5]

Wenn diese beiden Aspekte von Kants Friedensschrift als Neuerungen bezeichnet werden, so ist dies natürlich insoweit zu differenzieren, als auch vor Kant immer wieder Friedenspläne der unterschiedlichsten Art von den Philosophen entworfen worden sind. Gerade im Zeitalter der Aufklärung fand über diese Frage eine rege Diskussion statt, an die Kant unmittelbar anknüpft.[6] Kaum ein Philosoph vor Kant hat die Friedensfrage aber mit solcher Klarheit erörtert und dabei zugleich die vielfältigen intellektuellen Fallstricke vermieden, die in Form eines weltfremden Utopismus oder eines resignativen Realismus oder - indem die Not auf eine sehr unangemessene Weise zur Tugend gemacht wird - naiver Kriegsverherrlichung lauern.

[4] Vgl. Erasmus von Rotterdam: Querela pacis undique gentium ejectae profligataeque (Die Klage des Friedens, der von allen Völkern verstoßen und vernichtet wurde), in: Erasmus von Rotterdam: Ausgewählte Schriften. Fünfter Band, Hrsg. von Werner Welzig, Darmstadt 1968, S.359-451 (S.419).

[5] Vgl. Kant, Zum Ewigen Frieden, a.a.O., Zweiter Definitivartikel, S.356.

[6] Zu den Vorläufern von Kants Friedensschrift vgl. Georg Cavallar: Pax Kantiana. Systematisch-historische Untersuchung des Entwurfs „Zum ewigen Frieden“ (1795) von Immanuel Kant, Wien/Köln/Weimar 1992, S.23ff. - Eine Anthologie von Friedensentwürfen deutscher Intellektueller aus der Zeit Kants enthält: Anita Dietze / Walter Dietze: Ewiger Friede? Dokumente einer deutschen Diskussion um 1800, München 1989.

t g+ f @