Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie
3 Die Kernelemente von Kants Friedenskonzept
4 Ist Kants Friedenskonzept noch gültig ?
    4.1 Das „Kantsche Theorem“ auf dem Prüfstand
    4.2 Politische Öffentlichkeit und Welthandel als friedensfördernde Faktoren
    4.3 Was kann die UNO als Friedensbund leisten?
    4.4 Kants vernünftiger Moralismus
5 Der „ewige Frieden“ als unvollendete Aufgabe
6 Literatur

4.4 Kants vernünftiger Moralismus

Es könnte als ein Verstoß gegen ein fest etabliertes Grundprinzip der Moralphilosophie, das Prinzip, dass vom Sein kein Weg zum Sollen führt, verstanden werden, wenn nun zuletzt die Frage untersucht wird, ob die von Kant eingeforderte Pflicht zum Frieden im Lichte der untersuchten Tatsachen noch haltbar ist. Aber das grundsätzlich richtige Prinzip, dass vom Sein kein Weg zum Sollen führt, wird in der Praxis so gut wie immer durch (oft implizite) Normen, sogenannte „Brückenprinzipien“, eingeschränkt, die eine Verknüpfung zwischen beiden Bereichen herstellen, was solange logisch einwandfrei bleibt, wie diese Normen ihrerseits nicht vom Sein her begründet werden.[46] Gerade in der politischen Philosophie ist es sinnvoll ein derartiges Brückenprinzip zugrunde zu legen, das im Folgenden das Realitätsadäquatheitsprinzip genannt werden soll. Das Realitätsadäquatheitsprinzip besagt, dass keine politischen Zielsetzungen verfolgt werden sollten, deren Erreichung sehr unwahrscheinlich oder gar unmöglich ist, und die damit unrealistisch sind. Dieses Prinzip findet seine Rechtfertigung darin, dass die Kosten (an Geld und mehr noch an Menschenleben), die bei der Verfolgung unrealistischer Ziele anfallen, sich niemals auszahlen werden.

Wie ist Kants Friedenskonzept unter der Berücksichtigung des Realitätsadäquatheitsprinzips zu beurteilen? Eingangs wurde Kants Friedensidee als eine realistische Utopie charakterisiert. Nach der eingehenden Untersuchung der einzelnen Elemente von Kants Friedenskonzept lässt sich diese Einschätzung zweifellos aufrecht erhalten. Nicht unentscheidend ist dabei, dass der Weg zum Weltfrieden schrittweise gegangen werden kann, und dass dabei Teilerfolge erzielt werden können. (Insofern könnte man sagen, dass die Kosten für die Verfolgung dieses Ziels immer kontrollierbar bleiben.) Im Zweifelsfall kann sich Kant daher immer darauf zurückziehen, dass auch eine ewig währende Annäherung an den „ewigen Frieden“ noch sinnvoll und dann selbstverständlich auch moralisch geboten ist. Freilich hängt dies auch mit davon ab, welcher Weg zum Frieden gegangen wird. Von den beiden oben skizzierten Möglichkeiten scheint in dieser Hinsicht der Weg über eine Stärkung der UNO der unproblematischere zu sein, da hier nicht die Gefahr besteht, eben die Friedenschancen, die man gewinnen möchte, durch eine für die anderen weltpolitischen Mitspieler möglicherweise bedrohlich erscheinende Politik des Alleingangs zu verspielen. Ein möglicher Einwand könnte allerdings lauten, dass damit die Hoffnung auf eine friedliche und sichere Welt auf absehbare Zeit begraben wird, da die UNO als Friedensstifter bislang oft wirkungslos geblieben sei.

Insgesamt erweist sich Kants Friedenskonzept aber als hinreichend realitätsadäquat, damit eine Pflicht zum Frieden bejaht werden kann. Aber, so könnte man nun noch einwenden, ergibt sich daraus bereits eine Pflicht zum Frieden? Würde es nicht genügen den Frieden als Ideal zu postulieren, dass zu verfolgen wünschenswert sei, ohne gleich eine moralische Pflicht daraus zu machen? Diese Frage führt zurück zu den ethischen Grundprämissen von Kants politischer Philosophie, sowie auch auf die weitere, bereits erwähnte Frage, ob es neben der Pflicht, die natürlichen Rechte anderer zu achten, und die Gesetze, die vom Staat zum Schutz dieser Rechte erlassen werden, zu befolgen, auch die weitergehende Pflicht gibt, Institutionen wie beispielsweise einen Staat zu schaffen, die die natürlichen Rechte schützen, sofern solche Institutionen nicht vorhanden sind. Ohne diese Fragen - die eine sehr viel ausführlichere Behandlung, als sie hier möglich ist, verdienen würden - an dieser Stelle näher zu untersuchen, soll doch wenigstens eine Überlegung angeführt werden, die zeigt das Kants Prämissen schlüssig sind. Würde man nämlich - wie dies in der nationalistischen Staatsphilosophie nach Kant üblich wurde[47] - das auch von Kant befürwortete Prinzip der staatlichen Souveränität soweit ausdehnen, dass es geradezu verbietet, dass sich der Staat an internationalen Friedensregimen beteiligt, die seine Souveränität einschränken, dann ließe sich der Widerspruch nicht vermeiden, dass die Einzelnen als Bürger des Staates zur Gesetzestreue verpflichtet wären, in ihrer Gesamtheit aber von allen rechtlichen Bindungen frei blieben, ja als Soldaten unter Umständen sogar dazu verpflichtet sein könnten, sich für die organisierte Rechtlosigkeit mit ihrem Leben einzusetzen. Kurz gesagt, wenn die Rechtstreue vom Einzelnen gefordert werden kann, dann erst Recht vom Staat als Ganzes. Dass der Staat als Ganzes dabei unter anderen Rahmenbedingungen agiert, nämlich in einer Welt, die nicht wiederum durch einen übergeordneten Gesetzgeber geordnet ist, und dass dies zuweilen auch den Gebrauch kriegerischer Gewalt erfordert und rechtfertigt, steht auf einem anderen Blatt und widerspricht diesem Prinzip nicht.

[46] Vgl. Gerhard Schurz: The Is-Ought Problem. An Investigation in Philosophical Logic, Dordrecht/Boston/London 1997, S.279-285.

[47] Für ein einschlägiges Beispiel vgl. Georg Friedrich Wilhelm Hegel: Grundlinien der Philosophie des Rechts (Hrsg. von Johannes Hofmeister), 4.Aufl., Hamburg 1995, §333-§337, S.285-287. - Man kann Hegel nicht ohne Weiteres damit entschuldigen, dass er an dieser Stelle nur (gewissermaßen wertfrei) den Ist-Zustand beschreiben wollte. Wäre dies der Fall gewesen, so hätte Hegel es nicht nötig gehabt, diejenigen, die sich für die Herrschaft des Rechts auch in den internationalen Beziehungen einsetzen, als Moralisten zu diffamieren.

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