Eine unvollendete Aufgabe: Die politische Philosophie von Kants Friedensschrift

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Kants Friedensschrift als realistische Utopie
3 Die Kernelemente von Kants Friedenskonzept
4 Ist Kants Friedenskonzept noch gültig ?
    4.1 Das „Kantsche Theorem“ auf dem Prüfstand
    4.2 Politische Öffentlichkeit und Welthandel als friedensfördernde Faktoren
    4.3 Was kann die UNO als Friedensbund leisten?
    4.4 Kants vernünftiger Moralismus
5 Der „ewige Frieden“ als unvollendete Aufgabe
6 Literatur

4.1 Das „Kantsche Theorem“ auf dem Prüfstand

Die wichtigste Frage ist in diesem Zusammenhang zweifellos, ob Demokratien tatsächlich, wie Kant dies behauptet, friedliebender als Staaten mit anderen Regierungssystemen sind. Diese Frage ist schon des öfteren empirisch untersucht und gerade in jüngerer Zeit ausgiebig diskutiert worden, so dass hier auf bestehende Ergebnisse zurückgegriffen werden kann. Der empirische Befund besagt, dass Demokratien sich gegenüber anderen Demokratien überaus friedlich, um nicht zu sagen, geradezu pazifistisch verhalten.[20] Man müsste in der neuren Geschichte schon sehr weit zurück gehen und den Demokratiebegriff übermäßig stark ausweiten, um überhaupt auf einen handfesten Krieg zwischen zwei demokratischen Staaten zu stoßen.[21] Zugleich zeigt der empirische Befund aber auch, dass Demokratien sich gegenüber nicht demokratischen Staaten keineswegs weniger aggressiv verhalten als diese Staaten untereinander.[22]

Geht man von dem „Kantschen Theorem“ aus, dass Demokratien sich deshalb friedliebender verhalten, weil in der Demokratie diejenigen, die über den Krieg entscheiden, zugleich auch die vom Krieg betroffenen sind, dann ist dieser Befund erklärungsbedürftig. Insbesondere muss jede Erklärung dafür, warum Demokratien sich gegenüber Nicht-Demokratien unter Umständen doch aggressiv gebärden, auch angeben können, weshalb sie es untereinander wiederum nicht tun.

Denkbar ist, dass das „Kantsche Theorem“ nur eine begrenzte Gültigkeit hat, weil auch in modernen Demokratien die Voraussetzung, dass die über den Krieg Entscheidenden auch die zuerst Betroffenen sind, nur teilweise eingelöst ist. In der Tat kann dies aus drei Gründen der Fall sein: Erstens mischen sich in die Entscheidungsprozesse in der Demokratie immer auch mehr oder weniger starke Partikularinteressen ein, und gerade außenpolitische Entscheidungen werden so gut wie niemals basisdemokratisch getroffen. Zweitens werden bestimmte Bevölkerungsgruppen (junge Männer, Berufssoldaten, Steuerzahler) in den meisten Fällen stärker und auf andere Weise vom Krieg betroffen sein als andere. Beides zusammen kann bereits dazu führen, dass die Gruppe der Entscheidenden und die der Kriegsbetroffenen auseinander rücken. Schließlich können durch eine entsprechende Steuerpolitik auch die Kosten des Krieges sehr ungleichmäßig auf unterschiedliche Bevölkerungsgruppen abgewälzt werden. Alles in allem ist es also sehr plausibel, davon auszugehen, dass nur im Idealfall die Voraussetzung von Kants Theorem ohne Einschränkungen gegeben ist.[23] Als Erklärung reicht dies dennoch nicht hin, denn diese Erklärung würde für Konflikte zwischen Demokratien ebenso gelten, die aber - so der empirische Befund - so gut wie nie in einen Krieg ausarten.

Eine weitere Erklärung könnte darin bestehen, dass Kants Theorem Lücken aufweist, d.h. dass auch dann, wenn die Voraussetzungen dieses Gesetzes gegeben sind, immer noch andere Gründe eine Neigung zu Kriegen, die nicht der Verteidigung dienen, in der Demokratie hervorrufen können. In der Tat lässt sich in Kants Theorem eine entsprechende Lücke finden. Wenn nämlich die militärischen Kräfteverhältnisse zwischen einer Demokratie und einem anderen Staat derartig unausgewogen sind, dass kaum einer der Bürger der Demokratie fürchten muss, durch einen Krieg negativ betroffen zu werden, dann ist es sehr wohl denkbar, dass auch ein demokratisches Mehrheitsvotum zugunsten des Krieges ausfällt. Auch Kants Publizitätsprinzip wird dies kaum effektiv verhindern können, da, wenn schon eine Mehrheit am Krieg interessiert ist, auch die Vorwände, unter denen er geführt wird, von der öffentlichen Meinung akzeptiert werden dürften. Mit dieser Lücke lässt sich womöglich eine ganze Reihe „demokratischer“ Aggressionskriege erklären. Zu denken wäre hier beispielsweise an die Epoche des Kolonialimperialismus, der ja auch von demokratisch regierten Staaten ausging.[24] Wie bereits gesagt, schränkt die Feststellung dieser Lücke in Kants Theorem die Gültigkeit dieser Gesetzmäßigkeit in keiner Weise ein, verweist aber darauf, dass mit Kants Gesetz noch nicht alle inneren Bedingungen der Friedensfähigkeit von Demokratien gegeben sind. Um zu verhindern, dass Demokratien ungerechte Kriege führen, müssen noch weitere Voraussetzungen erfüllt sein. Zu denken wäre hier neben einer wachsamen politischen Öffentlichkeit an Verfassungsschranken sowie an wirksame internationale Regime.

Sicherlich spielt die oben beschriebene Lücke in „Kants Theorem“ für die Erklärung ungerechter Kriege von Demokratien eine große Rolle. Aber auch mit der Aufdeckung dieser Lücke ist die vergleichsweise höhere Aggressionsbereitsschaft von Demokratien gegenüber Nicht-Demokratien nicht erklärbar, da ungleiche militärische Kräfteverhältnisse als kriegsbegünstigendes Motiv auch zwischen Demokratien wirksam werden müssten.

Hinsichtlich der Erklärung dieser Differenz seien drei Vermutungen angestellt. Zum einen kann vermutet werden, dass zwischen Demokratien eine gewisse Affinität aufgrund der gleichartigen politischen Systeme besteht. Die Entscheidungsweisen, der Politikstil des anderen demokratischen Staates sind bekannt; das stiftet Vertrauen. Ebensogut könnten aber auch historisch kontingente Gründe eine Rolle spielen wie z.B., dass nach dem Zweiten Weltkrieg die meisten Demokratien durch Bündnisse und Verträge untereinander verbunden waren, wodurch die Gefahr möglicher wechselseitiger Aggressionen - ganz im Sinne der intendierten Wirkung von Kants Friedensbund - von vornherein vermieden wurde. Schließlich könnte man versucht sein, in Anlehnung an Huntingtons These vom „Clash of Civilisations“ darüber spekulieren, ob die demokratische Friedensneigung nicht auf eine kulturelle Affinität zurückzuführen sei, die dem ebenfalls kontingenten historischen Umstand geschuldet ist, dass die meisten Demokratien dem westlichen Kulturkreis zuzurechnen sind.[25]

Alles in allem zeigt sich aber, dass die These von der Friedlichkeit der Demokratien zwar in einigen Punkten der Differenzierung bedarf, in ihrer Grundsubstanz durch den starken empirischen Befund aber bestätigt wird. Dementsprechend erscheint auch der Ansatz, den Weltfrieden durch eine Politik globaler Demokratisierung zu fördern, grundsätzlich sinnvoll.

[20] Für diesen Befund vgl. Bruce Russet: Grasping the Democratic Peace. Principles fo a Post-Cold War World, Princeton University Press, Princeton / New Jersy 1993, im Folgenden zitiert als Russet: Grasping the Democratic Peace, S.3ff. - Vgl. auch Czempiel, Kants Theorem, S.302ff. - Für eine detaillierte Auflistung der Kriege des 19. und 20. Jahrhundert vgl. Singer, J. David / Small, Melvin: The Wages of War 1816-1965. A Statistical Handbook, New York / London / Sidney / Toronto 1972, S.383-398.

[21] Als mögliche Ausnahmen kämen beispielsweise in Frage: Der amerikanisch-britische Krieg von 1812, der amerikanische Bürgerkrieg (1861-65), der Burenkrieg (1899) und einige weitere. Vgl. dazu die Diskussion mit weiteren Beispielen in: Russet, Grasping Democratic Peace, S.16ff. - Die Kriege, die zwischen demokratischen Stadtstaaten im antiken Griechenland geführt wurden, taugen nur sehr begrenzt als Gegenbeispiel, da sich die Demokratien im antiken Griechenland hinsichtlich ihrer institutionellen Ordnung und ihrer normativen Voraussetzungen zu sehr von den modernen liberalen Demokratien unterscheiden.

[22] Vgl. Czempiel, Kants Theorem, S.302ff.

[23] Vgl. Czempiel, Kants Theorem, S.312-314.

[24] Man mag einwenden, dass Staaten wie Großbritannien und Amerika im 19.Jahrhundert, sowie die dritte französische Republik nicht oder nur in einem höchst eingeschränkten Maße demokratisch waren, indem ein Großteil der Bevölkerung (Frauen, Schwarze in den amerikanischen Südstaaten) noch vom Wahlrecht ausgeschlossen waren. In moralischer Hinsicht ist dieser Einwand auch vollkommen zutreffend. Für die Frage allerdings, ob Demokratien aufgrund ihrer inneren Struktur kriegsgeneigter sind als andere Herrschaftsformen, kommt es mehr auf das Vorhandensein von demokratischen Entscheidungsstrukturen als auf die Breite der Umsetzung des demokratischen Ideals an.

[25] Vgl. zu den hier angeführten Vermutungen: Russet, Grasping the Democratic Peace, S.24ff. - Hinsichtlich einer sich auf Huntington stützenden Erklärung wäre natürlich in Rechnung zu stellen, dass kulturelle Affinität weder den Ersten noch den Zweiten Weltkrieg verhindern oder auch nur eindämmen konnte, was für die relative Unbedeutsamkeit des kulturellen Faktors in diesem Zusammenhang spricht.

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