Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
    2.1 Voegelins theoretischer Ansatz
        2.1.1 Die Kritik des Positivismus
        2.1.2 Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft
            2.1.2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung
            2.1.2.2 Der Begriff der „Erfahrung“ als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung
            2.1.2.3 Von der Ordnungserfahrung zur politischen Ordnung
            2.1.2.4 Probleme der Voegelinschen Konzeption politischer Ordnung
    2.2 Voegelins Geschichtsdeutung
    2.3 Gnosisbegriff und Zeitkritik
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

2.1.2.2 Der Begriff der „Erfahrung“ als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung

Eine zentrale Stellung kommt in diesem Zusammenhang dem Begriff der Erfahrung zu. Die Wahrheit, die die politischen Gesellschaften repräsentieren, beruht nach Voegelins Ansicht auf einer spirituellen Erfahrung der Ordnung des Seins. Dieser Begriff der Erfahrung verlangt auf Grund seiner großen Bedeutung für Voegelins Verständnis von politischer Ordnung eine etwas eingehendere Untersuchung.[39]

Erfahrung spielt bereits in Voegelins frühesten Schriften eine Rolle, in welchen der Nachvollzug der seelischen Hintergründe und motivierenden Erfahrungen zu den grundlegenden Methoden des Verständnisses philosophischer Texte gehört.[40] Voll entfaltet und für das Verständnis politischer Ordnungen fruchtbar gemacht wird dieser Begriff jedoch erst mit „Order and History“. Der Begriff der Erfahrung ist nicht nur einer der wichtigsten Begriffe bei Voegelin, sondern, von den in ihn eingehenden theoretischen Voraussetzungen her, zugleich auch einer der anspruchsvollsten Begriffe Voegelins.

Um Verwechselungen zu vermeiden, soll zunächst geklärt werden, was „Erfahrung“ bei Voegelin nicht bedeutet: „Erfahrung“ bedeutet bei Voegelin nicht wissenschaftliche Empirie. Die wissenschaftliche Empirie bezieht sich auf deutlich abgrenzbare und klar beschreibbare Sinneserfahrungen. Die Erfahrung Voegelins meint dagegen eher ein schwer faßbares inneres Erleben. Zwar spricht Voegelin an einer Stelle davon, daß man sich zur empirischen Überprüfung auf die Erfahrung zu beziehen habe, aber dies geschieht wohl vornehmlich aus dem Wunsch, seinen eigenen Begriff von Erfahrung an die Stelle der wissenschaftlichen Empirie treten zu lassen, und nicht weil diese beiden Begriffe irgend etwas gemeinsam hätten.[41] Weiterhin meint Voegelin, wenn er von „Ordnungserfahrung“ spricht, niemals den Komplex täglicher Lebenserfahrungen, in einer geordneten gesellschaftlichen Umwelt zu leben. Dies würde Voegelins Konzeption geradezu auf den Kopf stellen, denn für Voegelin resultiert die gesellschaftliche Ordnung aus der Ordnungserfahrung und nicht umgekehrt.

Was bedeutet aber nun „Erfahrung“, wenn es sich nicht um Sinneserfahrungen handelt? Mit „Erfahrung“ meint Voegelin hauptsächlich ein bestimmtes inneres Erleben mystisch-religiöser Art. Diese Erfahrung existiert in unterschiedlichen Varianten. So unterscheidet Voegelin die Erfahrungen hinsichtlich ihres Niveaus nach kompakten und differenzierten Erfahrungen. Auf dem kompakten Erfahrungsniveau, welches vor allem für die älteren kosmologischen Gesellschaften charakteristisch ist, ist die Erfahrung als inneres Erlebnis noch gar nicht bewußt und unauflöslich mit dem allgemeinen Daseinsgefühl verwoben. Der Gegensatz „kompakt-differenziert“ wird bei der Darstellung von Voegelins Geschichtsphilosophie noch genauer erörtert werden. Es sei nur soviel vorweggenommen, daß Voegelin an eine historische Entwicklungstendenz hin zu immer differenzierteren Erfahrungen glaubte. Obwohl nämlich die Erfahrung als inneres Erlebnis eine höchst individuelle, ja geradezu intim persönliche Angelegenheit darstellt, ist sie dennoch durch ein erstaunliches Maß von gesellschaftsinterner Einförmigkeit gekennzeichnet. Alle Individuen einer Gesellschaft haben bei Voegelin offenbar die gleichen seelischen Erlebnisse, solange bis ein Prophet oder Philosoph kommt und ihnen eine neue Art des seelischen Empfindens nahe bringt.[42] Dennoch zweifelte Voegelin nicht daran, daß die Erfahrung ursprünglich und authentisch ist.

Wenn die Erfahrung ein inneres Erleben ist, so stellt sich die Frage, was dort eigentlich erlebt wird. Was ist der Inhalt der Erfahrung? Dies ist eine Frage, bei deren Beantwortung auch Voegelin vor großen Schwierigkeiten stand. Oberflächlich könnte der Eindruck entstehen, daß je nach historischem Erfahrungsniveau unterschiedliche Dinge erfahren werden: In der kosmischen Erfahrung wird der Kosmos erfahren, auf differenzierterem Erfahrungsniveau dagegen wird die Transzendenz erfahren. Aber Voegelin wollte es nicht bei einem unvermittelbaren Gegensatz zwischen den verschiedenen Erfahrungstypen bewenden lassen. In seinen Augen ist die Erfahrung der Transzendenz schon auf kompaktem Niveau unbewußt mitgegenwärtig. Will man die übergreifenden Gemeinsamkeiten der unterschiedlichen Erfahrungstypen herausstellen, so läßt sich in etwa festhalten, daß nach Voegelins Vorstellung in jedem Falle das Sein im Ganzen und die Stellung des Menschen im Sein erfahren wird, nur daß auf kompaktem Erfahrungsniveau das Sein als sinnhaft geordneter Kosmos erlebt wird, während es auf differenziertem Niveau als Stufenfolge immanenter und transzendenter Seinsstufen erfaßt wird. Entscheidend ist, daß in jedem Falle die ontologische Ordnung ein und desselben Seins erfahren wird.[43]

[39] Zur Genese des Begriffes der Erfahrung im Werk Eric Voegelins: Vgl. Peter J. Opitz: Rücker zur Realität: Grundzüge der politischen Philosophie Eric Voegelins, in: Peter J. Opitz / Gregor Sebba (Hrsg.): The Philosophy of Order. Essays on History, Consciousness and Politics, Stuttgart 1981, S.21-73.

[40] Deutlich wird dies etwa in: Eric Voegelin: On the Form of the american Mind, Baton Rouge / London 1995, S.23ff.

[41] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.96. - Voegelins Fehler, um nicht zu sagen sagen, seine Unredlichkeit besteht darin, daß er einerseits von einer Überprüfung an der Erfahrung spricht, daß dann aber, wenn sich bei bestimmten Menschen diese Erfahrung nicht einstellt, die Betreffenden kurzerhand für verstockt und ihre Erfahrungen für deformiert erklärt werden. Unter solchen Bedingungen ist eine Überprüfung anhand der Erfahrung natürlich ausgeschlossen. Vgl. auch Ted V. McAllister: Revolt against modernity. Leo Strauss, Eric Voegelin & the Search For a Postliberal Order, Kansas 1995, S.172. (McAllister scheint das Problematische daran freilich nicht recht zu sehen.)

[42] Nicht eindeutig läßt sich übrigens die Frage klären, ob und wodurch sich bei Voegelin die Erfahrung des Propheten von den Erfahrungen seiner Anhänger unterscheidet: Gibt es (1.) keinen Unterschied oder besteht (2.) bloß ein Unterschied der Intensität oder liegt (3.) auch hier ein Unterschied der Differenziertheit vor? Für das Letztere spricht, daß es bei Voegelin gelegentlich den Anschein hat, als sei nur eine gesellschaftliche Elite starker Seelen der differenziertesten Erfahrung fähig. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.172-174. (Die Theorie, die Voegelin an dieser Stelle vertritt, ist übrigens in jeder Hinsicht unglaubwürdig: 1.Unsicherheit ist gewiß nicht das Wesen des Christentums. Jeder christliche Priester wird uns ganz im Gegenteil bestätigen, daß gerade der Glaube der unsicheren, zufälligen und schutzlosen Existenz des Menschen Halt und Sicherheit zu geben vermag. 2.Aus der Annahme, daß die gnostischen Turbulenzen des Mittelalters und der Neuzeit ursprünglich dadurch verursacht wurden, daß mit der Ausbreitung und Zunahme höherer Bildung im Spätmittelalter zunehmend auch Unberufene mit der vollen und, wie Voegelin glaubt, nur für ganz starke Seelen erträglichen Wahrheit des Christentum in Berührung kommen, folgt im Umkehrschluß, daß in den Jahrhunderten davor die gesellschaftliche Elite des Klerus zufälligerweise mit der natürlichen Elite der Seelenstarken zusammenfiel, was auch dann sehr unwahrscheinlich erscheint, wenn man Voegelins fragwürdige Prämissen bezüglich der spirituellen Überforderung durch das Christentum akzeptieren würde.)

[43] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.305.

t g+ f @