Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
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An dieser Stelle steht die normative Konzeption Voegelins vor einem schwierigen Problem: Wie kann gültig zwischen richtiger und falscher Erfahrung von der Ordnung des Seins unterschieden werden? In der „Neuen Wissenschaft der Politik“ gibt Voegelin auf diese Frage keine zufriedenstellende Antwort. Der Hinweis auf das unterschiedliche, kompakte oder differenzierte Niveau von Erfahrungen hilft kaum weiter, da gerade das Niveau aus der jeweiligen Sicht der unterschiedlichen Erfahrungen gegensätzlich beurteilt werden dürfte.[50] Zweifelhaft ist auch Voegelins Voraussetzung, daß es eine Ordnung des Seins gibt, die jenseits naturgesetzlicher Bestimmtheit einen sinnhaften Zusammenhang der Dinge herstellt. Selbst wenn eine solche Ordnung des Seins objektiv vorhanden wäre, so ist noch längst nicht geklärt, ob diese Ordnung des Seins auch dazu geeignet ist, die Grundlage der politischen Ordnung einer Gesellschaft abzugeben. Woher können wir die Sicherheit nehmen, daß die Normen, die aus der Ordnung des Seins abgeleitet sind, moralisch akzeptabel und mit den praktischen Erfordernissen der Politik verträglich sind? Ohne eine schlüssige Antwort auf diese Frage dürfte Voegelins normatives Programm, welches die Revitalisierung eines spirituell-religiös eingebundenen Politikverständnisses in der heutigen Zeit anstrebt, kaum bei der Gestaltung der gesellschaftlichen und politischen Praxis hilfreich sein.
Aber nicht nur die normative Seite von Voegelins politikwissenschaftlichem Ansatz bereitet Schwierigkeiten. Auch Voegelins analytische Konzeption ruht auf einer Reihe von sehr anspruchsvollen und längst nicht restlos geklärten Voraussetzungen. Schon die Annahme, daß alle politischen Ordnungen auf einer metaphysischen Erfahrung der Ordnung des Seins beruhen müssen, fordert Widerspruch heraus, denn offensichtlich kommen die liberalen Demokratien ohne eine derartige Grundlage aus. Voegelin versucht diese Tatsache zu leugnen, indem er entweder die Situation des Liberalismus als höchst gefährdet und prekär darstellt, weil ihm eine solche Grundlage fehlt,[51] oder den liberalen Demokratien unterstellt, in verschleierter Form (als „common sense“) doch ein solches metaphysisches Ordnungswissen zu konservieren.[52] Hier zeigt sich übrigens eine erkenntnistheoretische Gefahr des normativ-ontologischen Ansatzes. Wird nämlich ein und dieselbe Theorie zur Sacherklärung wie zur normativen Kritik verwandt, so liegt es nahe, diejenigen Fälle, die der Theorie widersprechen könnten, statt als falsifizierende Gegenbeispiele in Betracht zu ziehen, als illegitime Fälle der normativen Kritik zu unterwerfen.[53]
Darüber hinaus wirft Voegelins Erfahrungsbegriff als methodisches Analysewerkzeug einige Probleme auf. Die Aufgabe des Verstehens politischer Ordnung besteht für Voegelin darin, in die Erfahrungen der entsprechenden Gesellschaft oder, wenn es sich um die Untersuchung einer politischen Theorie handelt, in die Erfahrung des entsprechenden Theoretikers einzudringen. Voegelin unterscheidet dieses Eindringen in die motivierenden Erfahrungen klar von der bloßen Rekonstruktion einer Theorie auf der Ebene der politischen Ideen.[54] Die Ideen sind nur die Oberfläche, während die Erfahrungen das seelische Innere repräsentieren, auf das es eigentlich ankommt. Um also beispielsweise die politische Theorie Platons zu verstehen, genügt es nicht zu untersuchen, welche Institutionen und Gesetze Platon vorschlägt. Vielmehr ist danach zu fragen, welche motivierenden inneren Erlebnisse Platons Denken zugrunde liegen. Aber wie kann man den seelischen Erfahrungshintergrund einer Theorie sicher rekonstruieren? Das Verfahren, welches Voegelin zur Ergründung der Erfahrungen anwendet, scheint eines der Innervation mit anschließender Selbstauslegung zu sein. Naturgemäß sind daher die Ergebnisse, zu denen Voegelin gelangt, stark subjektiv gefärbt. So findet Voegelin beispielsweise bei Thomas von Aquin die tiefste und reinste Transzendenzerfahrung, während er der Reformation eine echte Erfahrungsgrundlage offenbar nicht in gleichem Maße zubilligen will.[55] Oft läßt sich bereits die Auswahl der von Voegelin als relevant eingestuften und zur Deutung herangezogenen Quellen nicht ohne weiteres nachvollziehen. Indessen muß eingeräumt werden, daß die Beweggründe des Handelns und Denkens von Menschen in der Tat häufig in inneren seelischen Regungen bestehen, die als solche niemals nach außen dringen, so daß man in derartigen Fällen entweder auf jede Chance des Verstehens ganz verzichten oder einen Versuch auf dem unsicheren Wege psychologischer Einfühlung wagen muß. Nur bleibt es dann immer noch grundsätzlich fragwürdig, ob für das Verständnis einer Theorie das Verständnis des Theoretikers und seiner Motive überhaupt eine notwendige Voraussetzung bildet. Die Wahrheit oder Falschheit einer Theorie entscheidet sich schließlich nicht an den Motiven des Erfinders der Theorie.
Im Ganzen beruht Voegelins politikwissenschaftliches Paradigma mit seiner starken Betonung der religiös-mystischen Erfahrung in hohem Maße auf bewußtseinsphilosophischen oder sogar theologischen Voraussetzungen. Ob es Voegelin gelingt, diese Voraussetzungen hinreichend plausibel zu begründen, wird daher anhand seiner Bewußtseinsphilosophie zu prüfen sein.
[50] Das Problem der Relativität der Wertungen wird von Voegelin zwar öfters angesprochen und manchmal auch eine Weile verfolgt (z.B. anläßlich der Interpretation von Aristoteles in: Eric Voegelin: Order and History. Volume Three. Plato and Aristotle, Baton Rouge / London 1986 (zuerst: 1957), im folgenden zitiert als: Voegelin, Order and History III, S.299-302.), aber niemals glaubhaft gelöst.
[51] Vgl. Eric Voegelin: Der Liberalismus und seine Geschichte, in: Karl Forster (Hrsg.): Christentum und Liberalismus, München 1960, S.13-42 (S.35-42).
[52] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.352-354. Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.259.
[53] Dies wird auch besonders an Voegelins Behandlung der Philosophiegeschichte deutlich. Philosophien, die Voegelin nicht als Artikulation von Seinserfahrungen deuten kann, verwirft er in der Regel als törichte oder gefährliche Abirrungen. Dabei hätte Voegelin sich eigentlich eingestehen müssen, daß es in der Philosophie nur in Einzelfällen um die Artikulation von religiösen Erfahrungen geht.
[54] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.115-117, S.176. - Auf Seite 176 schreibt Voegelin: „Es wird .. nicht überflüssig sein, sich des Prinzips zu erinnern, daß die Substanz der Geschichte auf der Ebene der Erlebnisse, nicht auf der Ebene der Ideen zu finden ist“.
[55] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.188.