Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
    2.1 Voegelins theoretischer Ansatz
        2.1.1 Die Kritik des Positivismus
        2.1.2 Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft
            2.1.2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung
            2.1.2.2 Der Begriff der „Erfahrung“ als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung
            2.1.2.3 Von der Ordnungserfahrung zur politischen Ordnung
            2.1.2.4 Probleme der Voegelinschen Konzeption politischer Ordnung
    2.2 Voegelins Geschichtsdeutung
    2.3 Gnosisbegriff und Zeitkritik
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

2.1.2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung

Im Zentrum des nicht-normativen Teils des politikwissenschaftlichen Programmes der „Neuen Wissenschaft der Politik“ stehen die Begriffe der Artikulation, der Repräsentation und der Erfahrung. Unter Artikulation versteht Voegelin den Prozeß der Entstehung einer politischen Gesellschaft. Voegelin spricht auch davon, daß sich eine Gesellschaft „zur historischen Existenz“ artikuliere.[30] Den Ausdruck „Artikulation“ gebraucht Voegelin deshalb, weil die Symbole, mit denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis ausdrückt, in seinen Augen bereits einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen und dadurch die politische Gemeinschaft recht eigentlich erst hervorbringen.[31] Voegelin bezeichnet diesen Komplex von Symbolen, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausdrücken, auch als „Symbolismus“.[32] In dem Ausdruck „Artikulation“ klingt darüber hinaus etwas von Voegelins spezifischem Verständnis von politischer Ordnung an. Voegelin zufolge äußern die politischen Gesellschaften nicht bloß irgendein beliebiges Selbstverständnis, sondern durch ihre Ordnung „artikulieren“ sie zugleich ihr Verständnis der Ordnung des Seins.[33]

Zur Artikulation, d.h. zur Entstehung und Erhaltung einer politischen Gesellschaft gehört aber auch eine Form herrschaftlicher Organisation dieser Gesellschaft. Diesen Aspekt beschreibt Voegelin mit dem Begriff der Repräsentation. Unter Repräsentation versteht Voegelin, abweichend vom üblichen Begriff demokratischer Volksvertretung, die herrschaftliche Vertretung beliebiger Art im politischen Handeln der Gesellschaft.[34] Voegelin unterscheidet drei Ebenen der Repräsentation: deskriptive Repräsentation, existenzielle Repräsentation und transzendente Repräsentation. Unter deskriptiver Repräsentation versteht Voegelin ein beliebiges System institutioneller Regelungen, welches handlungsbevollmächtigte Vertreter einer politischen Gemeinschaft hervorbringt. Ausgeschlossen bleiben auf dieser Ebene noch Fragen wie die nach der Legitimität, Effizienz und auch der tieferen Wahrheit eines solchen Systems.[35] Von existenzieller Repräsentation spricht Voegelin, wenn eine deskriptive Repräsentation vorliegt, durch die eine Herrschaft hervorgebracht wird, deren Anordnungen Gehorsam finden und die in der Lage ist, die vitalen Bedürfnisse einer politischen Gesellschaft (Schutz nach außen, Sicherheit im Inneren) zu garantieren. Der Begriff entspricht weitgehend dem, was man üblicherweise eine legitime Herrschaft nennt.[36]

Bis zu diesem Punkt bietet Voegelin, abgesehen von seiner eigenwilligen Terminologie, nichts Ungewöhnliches. Ein grundlegend neuer Aspekt tritt jedoch mit der dritten Bedeutungsebene von Voegelins Repräsentationsbegriff, der transzendenten Repräsentation, hinzu. Die transzendente Repräsentation bezieht sich nicht mehr nur auf Regierung und Herrschaft, sondern auf die politische Ordnung einer Gesellschaft im Ganzen. Alle politischen Gesellschaften halten ihrem Selbstverständnis nach ihre eigene politische Ordnung für die wahre Ordnung. Voegelin faßt dies so auf, daß die politischen Gesellschaften durch ihre politische Ordnung eine höhere Wahrheit repräsentieren.[37] So glaubten etwa die Menschen in Mesopotamien oder im alten Ägypten, daß sich in ihrer politischen Ordnung die Ordnung des Kosmos widerspiegele bzw. fortsetze. Doch ist dies nicht die einzige Möglichkeit der Wahrheitsrepräsentation. In Platons idealem Staat etwa repräsentiert die politische Ordnung eine Wahrheit, derer der Philosoph im Inneren seiner Seele gewahr wird. Voegelin sieht deshalb im Auftreten Platons den Durchbruch zu einem neuen Typus von transzendenter Repräsentation.[38]

[30] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.61., S.67.

[31] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.50.

[32] Der Ausdruck „Symbolismus“ dürfte an Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ angelehnt sein. Auch Cassirer hält die Fähigkeit, Symbole zu bilden, für eine menschliche Leistung sui generis und betrachtet den Begriff der „symbolischen Form“ daher als einen irreduziblen Grundbegriff der Humanwissenschaften, ohne allerdings so weitreichende Konsequenzen zu ziehen wie Voegelin. Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S.49.

[33] In der „History of Political Ideas“ spricht Voegelin noch etwas plastischer von „Evokation“. (Vgl. Voegelin, „Introduction“ zur „History of Political Ideas“, S.23ff.) Möglicherweise erschien Voegelin der Ausdruck „Evokation“ später zu relativistisch, indem dieses Wort suggeriert, daß die „evozierte“ Realität ein gesellschaftliches Artefakt ist und nicht Ausdruck von spirituellen Erfahrungen. - Etwas mysteriös erscheint es dabei, daß bloß durch die Bildung und den Gebrauch von Symbolen eine Wirklichkeit soll hervorgebracht werden können. Die Möglichkeit eines solchen Vorgangs und der Wirklichkeitscharakter dieser Symbolwelten - für Voegelin offenbar fraglose Selbstverständlichkeiten - bedürften eigentlich noch der Klärung.

[34] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.60 unten, S.61 oben, wo sehr deutlich wird, daß Voegelin mit „Repräsentation“ eigentlich eher Herrschaft als Repräsentation im Sinne einer ganz bestimmten und eben nicht beliebigen Form der Herrschaftsbestellung meint.

[35] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.57. - Auch wenn Voegelin es anfangs so erscheinen läßt, deckt sich sein Begriff deskriptiver Repräsentation nicht mit dem in der (westlichen) Politikwissenschaft üblichen Begriff von Repräsentation, denn das herkömmliche Verständnis von Repräsentation umfaßt auch den Legitimitätsaspekt und beschränkt den Begriff andererseits auf die demokratische Repräsentation, so daß es ein klarer Mißbrauch dieses Ausdruckes wäre, im Falle des Sowjetsystems von repräsentativer Regierung zu reden.

[36] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.77.

[37] Vgl. Voegelin, S.81ff.

[38] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S.93.

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