Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
    3.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
    3.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
        3.2.1 Voegelins Schrift „Zur Theorie des Bewußtseins“
        3.2.2 Kritik von Voegelins Theorie des Bewußtseins
    3.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
    3.4 „Was ist politische Realität?“
    3.5 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

3.2.2 Kritik von Voegelins Theorie des Bewußtseins

Sind Voegelins Überlegungen „Zur Theorie des Bewußtseins“ überzeugend, geben sie die Beziehungen zwischen Sein und Bewußtsein richtig wieder, dürfen Voegelins Argumente als stichhaltig angesehen werden? Da es kaum möglich ist, auf alle Einzelheiten der sehr reichhaltigen Ausführungen Voegelins einzugehen, sollen zur genaueren kritischen Untersuchung nur einige Punkte herausgegriffen werden, die für Voegelins Argumentation von wesentlicher Bedeutung sind.

Innerhalb von Voegelins eigener Darstellung der Bewußtseinsstruktur findet sich an zentraler Stelle das Argument, daß sich das Bewußtsein bei dem Versuch, transfinite Prozesse deskriptiv zu beschreiben, auf Grund seiner eigenen Endlichkeit unvermeidlich in Widersprüche verwickelt. Das Argument spielt deshalb eine wesentliche Rolle, weil diese Widersprüche es erforderlich werden lassen, zur Deutung bestimmter Wirklichkeitsbereiche auf die zwar subtilen und seelisch sensiblen aber an Klarheit und Objektivität hinter einer deskriptiven Beschreibung zurückstehenden Instrumente der Mythensymbolik und der Prozeßtheologie zurückzugreifen. Unglücklicherweise steckt gerade in dieser Passage von Voegelins Darstellung eine Reihe von Fragwürdigkeiten, die sich nicht ohne weiteres auflösen lassen.

Zunächst einmal ist es zweifelhaft, ob, wie Voegelin es behauptet, der Bewußtseinsprozeß das einzige erfahrene Modell eines Prozesses darstellt. Prozesse oder, mit anderen Worten, zeitlich ablaufende Vorgänge im weitesten Sinne erleben wir tagtäglich in der äußeren Erfahrung, z.B. wenn wir ein fahrendes Auto beobachten. Die äußere Erfahrung eignet sich dabei mindestens ebenso gut, wenn nicht besser, als die innere Erfahrung, um den Begriff eines Prozesses zu bilden. Abgesehen davon ist es aber auch überhaupt nicht erforderlich, zur Bildung eines Begriffes diesen von irgend einer Erfahrung abzuziehen. Ebenso wie ein großer Teil unseres Wissens nicht aus unmittelbarer Erfahrung stammt, gibt es auch viele Begriffe, die rein abstrakt sind. Alle mathematischen Begriffe gehören zu dieser Klasse. Insbesondere ist es ohne Probleme möglich, widerspruchsfreie Begriffe von Unendlichkeit zu bilden. Die Mengenlehre verfügt über mehrere solcher Begriffe. Freilich decken diese Begriffe nicht alle Wortbedeutungen von „unendlich“ ab, und die „unendliche Sehnsucht“, von der ein romantischer Dichter schwärmen mag, wird von der Mengenlehre nicht erfaßt, aber es ist nun nicht mehr einleuchtend, weshalb die Finitheit des Bewußtseinsprozesses bei der Beschreibung von unendlichen Prozessen zu Ausdruckskonflikten führen muß. Außerdem scheint sich Voegelin auch hinsichtlich der Bedeutung der Kantischen Antinomien geirrt zu haben. Kants Antinomien beruhen letztlich auf unterschiedlichen Voraussetzungen, die den einander gegenübergestellten Beweisen und Gegenbeweisen zu Grunde liegen. Um Antinomien könnte es sich nur noch dann handeln, wenn diese Voraussetzungen gleichermaßen notwendig wären. Aber dies - und hierin irrt Kant und mit ihm viele seiner Interpreten und, wie es scheint, leider auch Voegelin - ist nicht der Fall.[180] Was Voegelin schließlich mit den Paradoxen der Mengenlehre meint, geht aus dem Text leider nicht hervor. Möglicherweise meint Voegelin die Russelsche Antinomie, die in der naiven Mengenlehre auftritt. Aber erstens handelt es sich nicht um ein Paradox der Unendlichkeit, und zweitens läßt sie sich mühelos durch eine axiomatische Fassung der Mengenlehre beseitigen.[181]

Voegelins Argument ließe sich im Grundsätzlichen immer noch dann rechtfertigen, wenn es gelänge zu zeigen, daß bestimmte Wirklichkeitsbereiche aus anderen Gründen als dem ihrer „Infinitheit“ einer deskriptiven Beschreibung unzugänglich sind. Dann müßte die Diskussion um die Fragen geführt werden, ob es diese Wirklichkeitsbereiche tatsächlich gibt, und wenn es sie gibt, ob Mythensymbolik oder Prozeßtheologie sie erfassen können. So wie Voegelin argumentiert, bleibt die Notwendigkeit des Gebrauches dieser Symbolformen jedoch unbegründet.

Einen weiteren wichtigen Abschnitt, der zwar weniger für Voegelins folgende Argumentation von Bedeutung ist, aber dafür seine grundsätzliche philosophische Einstellung widerspiegelt, bildet Voegelins Versuch, das Problem der Anerkennung der Mitmenschen als gleichartige und gleichwertige Wesen (in Voegelins Terminologie: das Problem der „Erfahrung vom Nebenmenschen“) mit Hilfe der Mythengeschichte zu lösen. Voegelins Argumentation enthält eine Reihe von Schwachpunkten. Die erste Schwierigkeit bildet der Begriff des „Erfahrungsfaktums“. Obwohl wir, wie auch Voegelin einräumt, von unseren Mitmenschen keine innere Erfahrung haben, sollen wir dennoch durch ein Erfahrungsfaktum unmittelbar davon in Kenntnis gesetzt sein, daß sie ein Innenleben haben. Nun mögen wir zwar intuitiv den Eindruck haben, daß in unseren Mitmenschen auch ein denkendes und fühlendes Bewußtsein steckt, aber die Berufung auf die Intuition ist auch dann noch ein schwaches Argument in der Erkenntnistheorie, wenn sie hochtönend als „Fundamentalcharakter“ der „Transzendenzfähigkeit“[182] des Bewußtseins bezeichnet wird. Der Einwand gegen Husserl, daß sich das Du nicht im Ich konstituiert, ist dagegen durchaus angebracht, denn das Bewußtsein kann unmöglich durch Konstitution etwas hervorbringen, was außerhalb seiner selbst existiert. Als geradezu abwegig erscheint allerdings Voegelins Behauptung, daß dieses erkenntnistheoretische Problem nur im Rahmen der altertümlichen Gleichheitsmythen behandelt werden kann. Weder für die Formulierung dieses Problems noch erst recht zu seiner Lösung ist der Rückgriff auf die Mythengeschichte notwendig oder auch nur hilfreich.

Der zweite Schwachpunkt von Voegelins Argumentation liegt in seiner Annahme, daß die moralische Gleichheit aller Menschen nur im Rückgriff auf alte Mythen artikuliert werden kann. Bei der Behandlung dieser moralphilosophischen Problematik müssen drei unterschiedliche Ebenen klar voneinander getrennt werden: Die Ebene der Begründung von Werten, die Ebene der Artikulation bzw. Formulierung der Werte und die Ebene der Vermittlung und Verbreitung der Werte. Für die Begründung des Gleichheitswertes kann die Mythengeschichte offensichtlich nicht herangezogen werden. Wenn die moralische Gleichheit der Menschen nämlich im Sinne einer moralischen Intuition auf einem „Erfahrungsfaktum“ beruht,[183] dann besteht die einzig ehrliche Weise, diesen Wert zu begründen, darin, auf diese Intuition bzw. Erfahrung hinzuweisen, und gegebenenfalls die Begleitumstände (Stimmung, äußere Situation, evtl. eingenommene bewußtseinsstimulierende Substanzen) zu beschreiben, unter denen sie zustande kommt oder in besonders deutlicher Weise hervortritt.

Die Formulierung des Gleichheitswertes ist mit und ohne Rückgriff auf Mythen möglich. Ohne Rückgriff auf die Mythologie kann sie beispielsweise durch die Worte erfolgen: „Alle Menschen sind gleich“. Bereits mit diesen schlichten Worten ist der Inhalt der Gleichheitsidee vollständig und ohne jede Mythologie ausgedrückt. Eine Artikulation unter Rückgriff auf die Mythologie könnte durch Erzählung der Geschichte von Adam und Eva erfolgen. Der mythische Ausdruck ist nun sicherlich die schlechtere Art der Artikulation, denn da es sich schwer verbergen läßt, daß die Geschichte von Adam und Eva nicht der historischen Wahrheit entspricht, riskiert man heutzutage sehr leicht, für unseriös oder lächerlich gehalten zu werden, wenn man mit einer solchen Geschichte aufwartet. Analoges gilt für das Problem der Vermittlung des Gleichheitswertes. Zu der Zeit, als Voegelin den Aufsatz „Zur Theorie des Bewußtseins“ niederschrieb, war alles Mythologische sehr in Mode. Es war daher ein naheliegender Gedanke und konnte gar als eine Überlebensnotwendigkeit erscheinen, den totalitären Mythen aufgeklärte Mythen entgegenzustellen, um das Verständnis für die Urwahrheiten des menschlichen Zusammenlebens wiederzuerwecken.[184] In der heutigen Zeit würde eine solche Werbestrategie jedoch recht altfränkisch herauskommen. Daher ist heutzutage auch nicht mehr zu erwarten, daß der Ordnungswille „nur aktiv sein kann, wo er seinen Sinn in der Ordnung des Gemeinschaftsmythos hat“[185] Im Gegenteil ist es eher zu befürchten, daß der Ordnungswille unglaubwürdig wird, wenn er sich nur auf eine mythische Grundlage berufen kann. Erfolgversprechender könnte es sein, das Gefühl für die Gleichheit aller Menschen zu wecken, indem man darauf aufmerksam macht, daß alle Menschen, gleichgültig an welchem Ort der Welt, von denselben menschlichen Nöten und Freuden, Hoffnungen und Sorgen bewegt werden.

Wie man sieht, ist also der Rückgriff auf die Mythengeschichte für das Gleichheitsideal nicht erforderlich und nur begrenzt nützlich. Voegelins Argument dafür, daß er unerläßlich sei, ist historischer Art und besteht in der Behauptung, daß alle Gleichheitsideen Derivate jener beiden erwähnten Urmythen sind.[186] Inwieweit dies historisch richtig und zwingend ist, sei dahingestellt. Für Voegelin war diese Vorstellung wohlmöglich deswegen attraktiv, weil sie ihm erlaubte, eine Analogie zum Leib-Geist-Dualismus herzustellen, indem der eine Mythos ein leiblicher und der andere ein geistiger ist. Aber selbst wenn Voegelins historische These richtig sein sollte, so folgt daraus nicht, daß die Gleichheitsidee niemals etwas anderes sein kann als ein Derivat dieser Urmythen. Insbesondere kommt es bei der moralphilosophischen Diskussion der Gleichheitsidee nur auf den Inhalt und die Begründung dieser Idee an. Diese sind aber von der Entstehungsgeschichte unabhängig, so daß die Diskussion darüber unbekümmert um historische Zusammenhänge geführt werden kann.

Nicht nur Voegelins Ausführungen zur Mythensymbolik sondern auch seine Interpretation der Prozeßtheologie wirft einige Fragen auf. Vor allem Voegelins Annahme, daß die Prozeßtheologie einen Bereich von „ontologischen Erfahrungen“[187] auslegt, bedarf der Klärung. Denn der Begriff der Erfahrung wird mit dieser Annahme stark überstrapaziert. Das Wissen um die Stufen des Seins ist deskriptives Wissen, das sich bestenfalls auf die Erfahrung stützt, das aber über die unmittelbare Erfahrung weit hinaus geht. Auch daß die meditative Erfahrung ein Wissen vom Seinsgrund vermittelt, muß als höchst zweifelhaft angesehen werden,[188] sofern „Seinsgrund“ ein ontologischer Begriff ist und nicht nur ein Name für die meditative Erfahrung selbst, wie Voegelins spätere Theorie der „Indizes“ des Bewußtseins dies nahelegt. Im letzteren Fall bestünde dann allerdings auch keine „Nötigung“ mehr (und es wäre im Gegenteil sogar ganz und gar unmöglich), den ontologischen Seinsprozeß im „Seinsgrund“ entspringen zu lassen. Wird jedoch auf diese Weise in Zweifel gezogen, daß es eine privilegierte Klasse ontologischer Erfahrungen gibt, dann bleibt auch die Prozeßtheologie, die Voegelin skizziert, als eine bestimmte ontologische Theorie in vollem Umfange angreifbar durch die Erkenntniskritik.

Abgesehen von diesen Schwierigkeiten bleibt auch der Sinn und Zweck der Prozeßtheologie etwas im Unklaren. Voegelin zufolge geht die Prozeßtheologie aus von der Frage: „ `Warum ist etwas, warum ist nicht Nichts?' “[189] Allerdings unternimmt die Prozeßtheologie dann keinen ernsthaften Versuch, diese Frage zu beantworten. Eher scheint sie darauf hinauszulaufen, das Gefühl der Verblüffung, das in jener Frage liegt, zu artikulieren. Wenn sich aber die überwiegende Mehrzahl der Menschen nicht mit dem erkenntnistheoretischen Befund der Unbeantwortbarkeit dieser Frage zufrieden geben will, wie Voegelin durchaus plausibel vermutet,[190] warum sollte sie sich dann mit der Prozeßtheologie, die diese Frage auch nicht beantworten kann, abspeisen lassen?

Hinsichtlich der Einbettung der Bewußtseinsphilosophie in die Ontologie, wie sie Voegelin im letzten Abschnitt seines Aufsatzes vollzieht, sind vor allem die zwei Thesen zu prüfen, daß die ontologische Problematik die Voraussetzung der Erkenntnistheorie bzw. Bewußtseinsphilosophie bildet, und daß der Mensch sich auf sein Bewußtsein und sein Wesen nur orientierend besinnen aber es niemals zu einem Gegenstand äußerer Beschreibung machen kann.

Die erste dieser Thesen ist auch für Voegelins wissenssoziologische Erklärungen von Bedeutung, denn nur, wenn sie bejaht wird, kann der „Versuch einer `radikalen' Bewußtseinsphilosophie aufklärungsbedürftig “[191] erscheinen. In einer bestimmten Hinsicht kann die Triftigkeit von Voegelins Einwand gegen die reine Bewußtseinsphilosophie kaum bestritten werden. Die Erklärung der meisten Bewußtseinsvorgänge dürfte nur schwer möglich sein, ohne auf die Tatsache zurückzugreifen, daß es sich um das Bewußtsein eines Menschen handelt, der in einer materiellen Außenwelt lebt. So ist etwa das gelegentliche Auftreten des Bewußtseinsphänomens „Hunger“ nur verständlich, wenn man weiß, daß das Bewußtsein, in dem es auftritt, das Bewußtsein eines Lebewesens ist, welches von Zeit zu Zeit der Speise und des Trankes bedarf. Auch darf wohl behauptet werden, daß ontologische Fragen insgesamt relevanter sind als nur rein bewußtseinsphilosophische Probleme, denn der Erhalt und die Wohlfahrt unseres Lebens hängt von dem ab, was in der Welt geschieht und nicht von dem, was sich davon im Bewußtsein spiegelt. Insofern spricht für Voegelins kritische Einstellung gegenüber der reinen Bewußtseinsphilosophie auch eine starke intuitive Plausibilität.

Aber ist damit auch die Möglichkeit einer reinen, d.h. ausschließlich introspektiven Beschreibung der Bewußtseinsvorgänge ausgeschlossen? Und muß die Erkenntnistheorie nun doch, trotz der drohenden Gefahr von Begründungszirkeln, ein Wissen um die Außenwelt voraussetzen? In dieser Hinsicht scheint Voegelins These unzureichend begründet zu sein. Auch wenn viele Bewußtseinsvorgänge losgelöst von der Außenwelt nur schwer zu deuten sein dürften, so bleibt doch die Möglichkeit, das Bewußtsein als reines Bewußtsein introspektiv zu beschreiben, immer noch bestehen. Sollte zur Beschreibung des reinen Bewußtseins als Prozeß eine Form von Zeitlichkeit vorausgesetzt werden müssen, die nicht introspektiv erfahrbar ist, so genügt es, allein die Existenz dieser Form von Zeitlichkeit zu postulieren, ohne zugleich auch den Leib und die Geschichte vorauszusetzen. Eine solche Beschreibung des reinen Bewußtseins würde auch dann keine weiteren ontologischen Hypothesen voraussetzen, wenn es faktisch substanzidentisch mit seinem leiblichen Fundament (Gehirn) sein sollte. Dabei ist übrigens die Hypothese der Substanzidentität zum Verständnis „der Fundierung von Bewußtsein in Leib und Materie“[192] nicht einmal zwingend erforderlich, denn diese Fundierung könnte auch durch die Hypothese der kausalen Verursachung von Bewußtseinsphänomenen durch mit diesen nicht substanzidentische physische Phänomene erklärt werden. Die Erkenntnistheorie schließlich setzt schon deshalb nicht die Ontologie voraus, weil die erkenntnistheoretischen Probleme auf einer anderen Ebene, auf der Ebene der Gültigkeit, liegen als die ontologischen Probleme. Zwar ist das Faktum, daß es Erkenntnis und Wahrheit gibt, davon abhängig, daß es Lebewesen gibt, die erkennen können, aber die Gültigkeit von Erkenntnis und die Antwort auf die Frage, worin Wahrheit besteht, und nach welchen Kriterien sie festgestellt werden kann, hängen nicht von diesen ontischen Voraussetzungen ab. Am leichtesten läßt sich dies an einem Beispiel verdeutlichen: Damit der Satz „Zwei mal zwei ist vier.“ existiert, muß es wenigstens ein intelligentes Wesen geben, welches ihn denkt oder äußert,[193] und damit dieses Wesen existiert, müssen weitere ontische Voraussetzungen erfüllt sein. Die Wahrheit dieses Satzes hängt jedoch von keiner dieser Voraussetzungen ab.[194]

Wie verhält es sich mit Voegelins zweiter These, daß das Bewußtsein sich nicht selbst wie einen Gegenstand betrachten kann? Voegelin führt als Grund für diese These an, daß die Bewußtseinsphilosophie „ein spätes Ereignis in der Biographie des Philosophen ist“, welches wiederum ein Ereignis in der Geschichte seiner Gemeinschaft, in der Geschichte der Menschheit und in der Geschichte des Kosmos ist. Aber diese Begründung ist wenig stichhaltig und dürfte eher auf Kosten einer holistischen Überzeugung Voegelins gehen als auf rationaler Überlegung beruhen. Jeder noch so profane Gegenstand hat auch seine Vorgeschichte im Kosmos, und das Wissen über ihn hat eine Vorgeschichte in der Geschichte des menschlichen Wissens. Dennoch wird niemand bestreiten, daß es Gegenstände gibt, die vollständig erkannt werden können. Wenn irgend etwas nur historisch verstanden werden kann, so muß es dafür speziellere Gründe geben. Und außer dem Kosmos selbst gibt es vermutlich nichts, dessen Erkenntnis die Geschichte des gesamten Kosmos voraussetzt.

Problematisch ist auch jener Teil von Voegelins Aufsatz, in welchem er das Auftreten der Bewußtseinsphilosophie in der Neuzeit historisch zu deuten versucht. Wie bereits dargelegt, sind Erkenntnistheorie und mit gewissen Einschränkungen auch die Bewußtseinsphilosophie legitime Einzeldisziplinen der Philosophie, die nicht als Teilgebiet einer allgemeinen Ontologie behandelt werden müssen. Ihr Auftreten ist daher bereits wesentlich weniger „aufklärungsbedürftig“ als Voegelin dies meint. Abgesehen davon bleibt es schleierhaft, woher Voegelin überhaupt die historische Aufgabe der Bewußtseinsphilosophie nimmt, eine neue Symbolik für religiöse Transzendenzerfahrungen zu suchen. Sofern Voegelin nicht wie Husserl die Existenz eines historischen Telos voraussetzen will, das jeden Philosophen verpflichtet, sich mit diesem Problem zu beschäftigen, kann er den Philosophen kein Versäumnis vorwerfen, wenn sie sich für die Frage der Symbolisierung von Transzendenzerfahrungen nicht interessieren. Freilich hat Voegelin das Recht, den Ausschluß der Besinnung auf Transzendenzerfahrungen aus dem Themenkanon der Philosophie zu tadeln, wenn er selbst der Ansicht ist, daß dieses Thema in der Philosophie einen Platz haben sollte. Allerdings ist zu berücksichtigen, daß andere Philosophen dies explizit ablehnen, und daß sie dazu mindestens ein ebensogutes Recht haben. Abgesehen davon existierten auch in der Neuzeit mit Religion und Theologie durchgängig geistige Disziplinen, die sich mit der Transzendenz beschäftigten und immer noch beschäftigen. Insofern ist es ein wenig voreilig, eine historische Krise der Symbole zu suggerieren. Schließlich ist anzumerken, daß gerade die Husserlsche Philosophie, welche sich noch am ehesten angeschickt hat, die Bewußtseinsphilosophie zum allumfassenden Universalparadigma auszuweiten, sich gegenüber dem religiösen Denken als sehr aufgeschlossen erwiesen hat. Daß die Zuwendung zum Bewußtseinsstrom ein Substitut für die christliche Existenzvergewisserung in der Meditation darstellt, scheint lediglich einer Wortassoziation des Wortes „transzendent“ geschuldet zu sein, welches welttranszendent oder bewußtseinstranszendent bedeuten kann.[195]

[180] Vgl. Immanuel Kant: Kritik der reinen Vernunft, Hamburg 1976, S.454-469. Für die Kant-Apologetik stellvertretend: Peter Baumanns: Kants Philosophie der Erkenntnis. Durchgehender Kommentar zu den Hauptkapiteln der „Kritik der reinen Vernunft“, Würzburg 1997, S.742ff. - Daß Kant irrt, kann man sich leicht überlegen, wenn man bei den Antinomien genau darauf achtet, von welchen expliziten und impliziten Voraussetzungen Kant bei seinen Beweisen jeweils ausgeht. Es würde zu weit führen, dies hier im einzelnen auszuführen.

[181] Vgl. Jürgen Schmidt: Mengenlehre (Einführung in die axiomatische Mengenlehre). I. Grundbegriffe, Mannheim 1966, S.22-24.

[182] Voegelin, Anamnesis, S.47.

[183] Im Bereich der Ethik ist anders als in der Erkenntnistheorie die Berufung auf die Intuition unter Umständen legitim. Es stellt sich dann nur die Frage, ob intuitiv begründete Werte intersubjektive Verbindlichkeit beanspruchen dürfen.

[184] Eine ähnliche Absicht lag bekanntlich Thomas Manns Josephs-Romanen zu grunde, deren zeitgeschichtlichen Bezug er in einer späteren Selbstdeutung auf die Formel gebracht hat, daß der „Mythos .. in diesem Buch dem Fascismus aus den Händen genommen“ wurde. (Thomas Mann: Joseph und Seine Brüder (Vortrag in der Library of Congress am 17.11.1942), in: Thomas Mann: Essays. Band 5: Deutschland und die Deutschen 1938-1945. (Hrsg. v. Hermann Kurzke und Stephan Stachorski), Frankfurt am Main 1996, S.185-200 (S.189).)

[185] Voegelin, Anamnesis, S.50.

[186] Daß sich aus dem von Voegelin behaupteten Ausdruckskonflikt bei der Artikulation unendlicher Prozesse für diesen Fall kein notwendiger Grund für den Gebrauch der Mythensymbolik ableiten läßt, wurde bereits erwähnt.

[187] Voegelin, Anamnesis, S.54.

[188] Vgl. dazu die Ausführungen zu Voegelins Descartes-Interpretation weiter oben in dieser Arbeit.

[189] Voegelin, Anamnesis, S.51. - Vgl. Friedrich Schelling: Philosophie der Offenbarung, Zwölfte Vorlesung, in: Frank-Peter Hansen (Hrsg.): Philosophie von Platon bis Nietzsche, CD-ROM, Berlin 1998, S.37855 / S.72 (Konkordanz: Friedrich Wilhelm Joseph von Schelling: Werke. Auswahl in drei Bänden. Herausgegeben und eingeleitet von Otto Weiß. Leipzig 1907. Band 3, S.781).

[190] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.51.

[191] Voegelin, Anamnesis, S.58.

[192] Voegelin, Anamnesis, S. 55.

[193] Manche Philosophen glauben auch, daß Sätze wie dieser in einem platonischen Ideenhimmel existieren. Die Sätze würden dann auch existieren, wenn es keine Menschen oder nicht einmal eine Welt gäbe.

[194] Man könnte nun vermuten, daß nicht die Wahrheit aber die Bedeutung eines Satzes von ontischen Voraussetzungen, z.B. von der Bedeutungsgeschichte der in ihm verwendeten Wörter abhängt. Aber die Art und Weise, wie die Bedeutung eines Wortes entstanden ist, stellt keine Bedeutungsvoraussetzung des Wortes dar, auch wenn die Etymologie eines Wortes hilfreich sein kann, um die Bedeutung herauszufinden, wenn sie nicht bekannt ist.

[195] Dieses gilt zumindest, soweit von einem „Substitut“ die Rede ist. Daß im Bewußtseinsstrom auch Existenzversicherung gesucht werden kann, läßt sich jedoch durchaus nachvollziehen. Aber kann man beispielsweise William James, der bekennender Christ war, unterstellen, der Bewußtseinsstrom habe ihm als Substitut der christlichen Existenzvergewisserung gedient?

t g+ f @