Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
    3.1 Voegelin über Husserls „Krisis der europäischen Wissenschaften“
        3.1.1 Husserls Krisis-Schrift
        3.1.2 Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes
        3.1.3 Voegelins Einwände gegen die Fortschrittsgeschichte
        3.1.4 Voegelins Descartes-Deutung
    3.2 „Zur Theorie des Bewußtseins“
    3.3 Die „anamnetischen Experimente“ Voegelins
    3.4 „Was ist politische Realität?“
    3.5 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

3.1.2 Voegelins Kritik des Husserlschen Geschichtsbildes

Voegelin teilt seine Kritik an Husserls Krisis-Schrift in einem Brief an Alfred Schütz mit, den er später in seinem Werk „Anamnesis“ veröffentlicht hat.[110] Voegelin war von Husserls Schrift einerseits sehr positiv beeindruckt. Ihn überzeugte vor allem Husserls Darstellung des „Physikalismus“. Schließlich hätte er darin auch eine Bestätigung seiner eigenen Kritik an der Verabsolutierung einzelner Seinsbereiche sehen können. Auch Husserls Positivismuskritik, seine Klage darüber, daß die positivistisch reduzierten Wissenschaften keine Orientierung für die drängenden Lebensfragen der Zeit zu bieten vermögen, liegt genau auf Voegelins Linie. Lobend äußert sich Voegelin zudem über die von Husserl an Descartes herausgearbeitete subtile Differenzierung zwischen transzendentalem und psychologischem Ego. Enttäuscht war Voegelin andererseits von Husserls fast rein erkenntnistheoretischem Ansatz. Nicht nur, daß Voegelin selbst die erkenntnistheoretischen Probleme nicht für die wirklich wichtigen philosophischen Fundamentalprobleme hält, was noch als eine Frage bloßer Vorlieben abgetan werden könnte,[111] sondern Voegelin ist darüber hinaus der Ansicht, daß erkenntnistheoretische Fragen nicht isoliert betrachtet werden können.[112] Allerdings führt er in diesem Brief an Schütz keine weiteren Argumente dafür an.

Den größten Teil des Briefes an Schütz füllt jedoch die Kritik an zwei Aspekten von Husserls Schrift aus, die Voegelin ganz und gar nicht gefielen: Die Hinwendung Husserls zur Geschichte und Husserls stiefmütterliche Behandlung von Descartes' dritter und den folgenden Meditationen. Nicht daß Voegelin an einer Hinwendung zur Geschichte in der Absicht philosophischer Selbstbesinnung an sich etwas auszusetzen gehabt hätte, aber in der Art und Weise, wie sich Husserl des Themas Geschichte in der „Krisis“-Schrift annimmt, konnte Voegelin nur zu gut einige der fatalen Züge wiedererkennen, die ihm von seiner Auseinandersetzung mit den neuzeitlichen Geschichtsideologien her wohlbekannt waren. An Descartes verkennt Husserl nach Voegelins Ansicht vollkommen den Zweck der Meditationen, der entsprechend der christlichen Tradition, welche Descartes, wie Voegelin meint, aufgreift, nicht in argumentativer Begründung sondern in meditativer Besinnung liegt und daher auch nicht argumentativ angreifbar ist.

An Husserls Behandlung der Geschichte mißfällt Voegelin nun zweierlei: Zum einen entspricht die von Husserl vorgenommene Auswahl historisch wichtiger Epochen (griechische Antike, Neuzeit von Descartes bis Kant, Phänomenologie) nicht Voegelins Geschmack. Zum anderen lehnt Voegelin die kollektivistischen Züge von Husserls Geschichtsinterpretation ab.

Die Auswahl historischer Epochen bei Husserl erscheint Voegelin deshalb so mangelhaft, weil sie nach seiner Ansicht erhebliche Lücken enthält. So ist weder das christliche Mittelalter in Husserls Darstellung enthalten, noch wird die Philosophie des Deutschen Idealismus angemessen historisch gewürdigt.[113] Von einer ernsthaften Berücksichtigung nicht-europäischer Kulturkreise kann schon gar keine Rede sein. Damit fallen aber einige Abschnitte der Menschheitsgeschichte weg, welche Voegelin für überaus bedeutend hielt.[114]

Es stellt sich die Frage, ob Voegelins Kritik in diesem Punkt berechtigt ist. Wäre Husserl verpflichtet gewesen, im Rahmen einer Einleitung in die Phänomenologie nicht nur die Phasen der Philosophiegeschichte anzusprechen, die die Vorgeschichte der Phänomenologie bilden, sondern alle Phasen, welche für die geistige Entwicklung der Menschheit insgesamt bedeutsam waren? Wenn man nicht gerade einen dogmatischen Holismus vertritt, zu welchem Voegelin gelegentlich neigt, so würde eine Einleitung in die Phänomenologie es höchstens erfordern, die Vorgeschichte der Phänomenologie darzustellen, nicht aber, auf die Geistesgeschichte im Ganzen einzugehen oder auch nur auf Zusammenhänge zur allgemeinen Geistesgeschichte hinzuweisen. Es ist ja auch nicht erforderlich, z.B. in einer Geschichte der Naturwissenschaften den Auszug aus Ägypten, den Apostel Paulus oder den heiligen Thomas von Aquin zu erwähnen, denn keine dieser Personen und Ereignisse hat einen Beitrag zur Entwicklung der Naturwissenschaften geleistet.

Husserls Geschichtsdarstellung erscheint jedoch in einem ganz anderen Licht, wenn man berücksichtigt, daß es Husserl auch und vor allem um den Sinn der Geschichte überhaupt ging und daß er in der Geschichte ein Telos zu finden meinte, welches für alle Menschen verbindlich sein sollte und nicht nur für die Phänomenologie betreibenden Philosophen, wiewohl diese Philosophen durch ihre schmeichelhafte Führungsrolle als „Funktionäre der Menschheit“[115] noch einmal besonders hervorgehoben werden. Angesichts dieses hohen geschichtsphilosophischen Anspruchs tadelt Voegelin zu Recht das armselige Bild der Geistesgeschichte der Menschheit, welches Husserl zeichnet. Die Mißachtung wichtiger Epochen der Menschheitsgeschichte kann bei diesem Anspruch nicht mehr als thematische Beschränkung entschuldigt werden.

Doch die Ablehnung von Husserls Geschichtsbild ist noch grundsätzlicher, denn der Anspruch, das Telos der Geschichte bestimmen zu können, ist unabhängig von der Tiefe und Vollständigkeit der Geschichtsdarstellung, die diesen Anspruch untermauern soll, als solcher höchst fragwürdig. Er mündet bei Husserl, so wie Voegelin es darstellt, in eine „averroistische[..] Spekulation“.[116] Unter „averroistischen Spekulationen“ versteht Voegelin Varianten des Grundgedankens vom Vorrang des Allgemeinen vor dem Besonderen. Die ungewöhnliche Bezeichnung leitet Voegelin vom Namen des mittelalterlichen mohammedanischen Philosophen Averroes ab, der neben Avicenna einer der bedeutendsten Vermittler des Aristoteles und der antiken Philosophie war. Durch ihn fand die aristotelische Philosophie Eingang in das Denken des christlichen Mittelalters. Was Voegelin „averroistische Spekulation“ nennt, ist denn auch eine Vorstellung, die schon in der antiken Philosophie ihre Grundlage hat.[117] Es handelt sich dabei um eine sehr allgemeine und etwas vage metaphysische Vorstellung, nach der es ein Primat der Wahrheit, des Wertes und der Wirklichkeit des Allgemeinen vor dem Speziellen, der Klasse vor dem Individuum oder des Ganzen vor dem Teil gibt. Diese Grundvorstellung kann in den verschiedensten Formen und bezogen auf die verschiedensten Gegenstände auftauchen. Auf gesellschaftspolitischer Ebene führt dieser Gedanke leicht zum Kollektivismus. Besonders problematisch wird die „averroistische Spekulation“, wenn sie im Verein mit einem Exklusivitätsprinzip auftritt, nach welchem bestimmte Gruppen oder Individuen aus dem maßgeblichen Kollektiv ausgeschlossen werden.[118]

Der averroistisch-spekulative Charakter von Husserls Geschichtsbild wird besonders deutlich, wenn Husserl das Telos der Geschichte als eine durch den Einzelnen „hindurchgehende Willensrichtung“[119] darstellt. Der Einzelne wird zu einem bloßen Agenten oder Medium jener höheren Willensrichtung, auf die allein es ankommt. Voegelin spricht deshalb auch von dem „kollektivistische[n] Telos“[120] Husserls. Auch die Beschränkung auf ein maßgebliches Kollektiv, welches dieses Telos vertritt, kommt bei Husserl in der Einschränkung des eigentlichen Menschentums auf das europäische Menschentum vor. In historischer Perspektive drückt sich nach Voegelin derselbe Gedanke bei Husserl darin aus, daß der überwiegende Teil der Menschheitsgeschichte schlicht übergangen wird zugunsten der vermeintlich wesentlichen Etappen, welche die Entfaltung des „Telos“ verkörpern.[121]

Aber Husserl ist für Voegelin nicht nur „Fortschrittsphilosoph im besten Stile der Reichsgründerzeit“.[122] Darüber hinaus erblickt Voegelin in Husserls durch die beiden Wendemarken der Urstiftung und der Endstiftung unterteilten Geschichte jenes Drei-Phasen-Geschichtsbild, welches, von der christlichen Heilsgeschichte herstammend, Eingang in so viele Geschichtsideologien der Neuzeit gefunden hat. Die messianische Endzeit, die in diesen Geschichtsideologien anders als in der christlichen Heilslehre nicht überzeitlich sondern geschichtsimmanent verstanden wird, beginnt bei Husserl mit der Endstiftung. Natürlich hütet sich Voegelin, Husserl mit gewalttätigen politischen Bewegungen wie dem Kommunismus oder dem Nationalsozialismus in eine Reihe zu stellen. Aber die Strukturverwandtschaft des Geschichtsbildes scheint ihm doch unverkennbar.[123]

Einige Interpreten der Husserlschen Philosophie versuchen Husserl vor dem Verdacht der Geschichtsideologie in Schutz zu nehmen, indem sie behaupten, daß Husserl nur als Phänomenologe innerhalb der Epoché, jener phänomenologischen Operation der Konzentration auf das Phänomen in seiner Selbstgegebenheit und unter Absehung von dessen Wirklichkeitsprätentionen,[124] gesprochen habe. Seine geschichtsphilosophischen Ausführungen seien daher eher als unverbindliche Besinnungen persönlicher Art auf die ganz privaten Absichten und Zwecke des Phänomenologen Husserl zu verstehen.[125] Diese Art der Apologie ist jedoch nicht überzeugend, denn die phänomenologische Epoché dient nicht minder der Gewinnung allgemeinverbindlicher Resultate als irgend eine wissenschaftliche Forschungsmethode. Idealiter liefert sie sogar Ergebnisse von „apodiktischer Evidenz“. Selbst wenn Husserl, ohne es übrigens irgendwo zu erwähnen, innerhalb der Epoché gesprochen hätte, so würden seine Äußerungen dadurch keineswegs akzeptabler. Husserl hätte dann, statt zu behaupten, die Geschichte habe ein Telos, lediglich behauptet, die Geschichte stelle sich uns notwendig so dar, als habe sie ein Telos, was aber nicht weniger fragwürdig wäre.

Man mag einwenden, daß mit diesem recht kritischen Ergebnis das geistesgeschichtliche Verdienst von Husserls Krisis-Schrift ungenügend gewürdigt wird. Geistesgeschichtlich gesehen, stellt Husserls Krisis-Schrift einen höchst bemerkenswerten Versuch einer Verbindung von Traditionalismus und Rationalismus, von geschichtlichem Denken und systematischer Philosophie, von religiösem Patrichalismus und Vernunfterkenntnis dar, eine Leistung, die trotz der wilhelminischen Einlassungen beachtet zu werden verdient. Allerdings zeigt auch gerade Voegelins Kritik, daß diese Synthese nicht aufgeht.

[110] Brief an Alfred Schütz über Edmund Husserl, 17. September 1943, in: Voegelin, Anamnesis, 21-36.

[111] Voegelin selbst vertritt freilich die Ansicht, daß über Fragen der Relevanz der Themenwahl objektiv entschieden werden kann.

[112] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.21-22.

[113] In Husserls „Krisis“ erscheint der Deutsche Idealismus nur als Annex zur Philosophie Kants. Vgl. Husserl, Krisis, S.109-112.

[114] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.22-23.

[115] Husserl, Krisis, S.17.

[116] Voegelin, Anamnesis, S.26.

[117] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.26.

[118] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.26-27. - Vgl. auch Eric Voegelin: Der autoritäre Staat. Ein Versuch über das österreichische Staatsproblem, Wien / New York 1997 (zuerst 1936), S.25-26.

[119] Husserl, Krisis, S.78.

[120] Voegelin, Anamnesis, S.27.

[121] Vgl. Voegelin, Anmanesis, S.27-28.

[122] Voegelin, Anamnesis, S.28.

[123] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.28-31.

[124] Vgl. Edmund Husserl: Die phänomenologische Methode. Ausgewählte Texte I (Hrsg. von Klaus Held), Stuttgart 1985, S.141-143.

[125] Vgl. Gilbert Weiss: Theorie, Relevanz, Wahrheit. Zum Briefwechsel zwischen Eric Voegelin und Alfred Schütz (1938-1959), München 1997, S.24-28. - Vgl. die Einleitung von Elisabeth Ströker in: Husserl, Krisis, S. XXIX.

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