Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung) |
Inhalt |
Aus Voegelins Sicht müßte ein ethischer Wertkonsens jedoch als ein höchst brüchiges Fundament der gesellschaftlichen Ordnung beurteilt werden, sofern er sich nicht auf einen einheitlichen spirituellen Erfahrungshintergrund stützen kann. Dies hängt unter anderem damit zusammen, daß Voegelin die Dialogmöglichkeiten zwischen Menschen mit unterschiedlichem spirituellem Erfahrungshintergrund überaus skeptisch beurteilt, was sogar soweit führt, daß Menschen ohne spirituelle Erfahrungen von Voegelin als potentielle Ordnungsstörer eingestuft werden. Ähnliche Auffassungen kehren auch bei manchen Anhängern Voegelins wieder. So wurde die Ansicht, daß die Gegensätze zwischen Menschen, die an die Existenz eines transzendenten Seins glauben, und Menschen, die sie bestreiten, weitgehend unversöhnlich bleiben müssen, solange über diese Schlüsselfrage nicht Einigkeit erzielt worden ist, unlängst von Thomas J. Farell bekräftigt, der in diesem Zusammenhang die Leugnung der Existenz eines transzendenten Seins unter Berufung auf prominente Psychologen wie C.G.Jung und ganz auf der Linie Voegelins als eine Art Geisteskrankheit deutet. Allerdings räumt auch Farell ein, daß es Profanbereiche gibt, innerhalb derer ein fruchtbarer Dialog zwischen Menschen, die jene Schlüsselfrage unterschiedlich beantworten, möglich ist.[385] Die Frage stellt sich nun, ob die politische Ordnung zu diesen Profanbereichen des menschlichen Lebens gehört.
Damit ist zugleich eine Grundfrage des Wesens politischer Ordnung angeschnitten: Ist die (in der Neuzeit stets durch den Staat repräsentierte) politische Ordnung nur ein Mittel zu bestimmten Zwecken wie etwa der Schaffung innerer und äußerer Sicherheit, oder ist sie darüber hinaus Ausdruck einer historischen Suche nach Ordnung, die mit dem Sinn der Welt und dem Sinn des Lebens in Zusammenhang steht? Im ersteren Fall kann die politische Ordnung voll und ganz dem Profanbereich zugeordnet werden, so daß eine Einigung über alle wesentlichen Prinzipien der politischen Ordnung auch zwischen Menschen mit unterschiedlicher Offenheit der Seele im Bereich des Möglichen liegt. Nur im letzteren Fall müßte zunächst eine gesellschaftlich verbindliche Entscheidung über die metaphysische Schlüsselfrage der Existenz transzendenten Seins getroffen werden.
Welche dieser beiden grundverschiedenen Wesensauffassungen politischer Ordnung ist nun aber die richtigere? Um diese Frage zu beantworten, empfiehlt es sich, von unterschiedlichen Funktionen des Politischen auszugehen, einer Friedenssicherungsfunktion und einer spirituellen Funktion, und dann zu klären, in welcher Beziehung sich diese Funktionen zueinander befinden, d.h. insbesondere, ob die politische Ordnung die Friedenssicherungsfunktion nur erfüllen kann, wenn sie auch spirituelle Funktionen erfüllt. Sollte sich herausstellen, daß sich beide Funktionen trennen lassen, dann kann als nächstes die Frage gestellt werden, welche der beiden Funktionen die für die politische Ordnung wesentlichere ist, und ob es nicht günstiger wäre, die andere Funktion innerhalb eines anderen Rahmens zu erfüllen, also etwa die spirituellen Ziele nicht auf der Ebene der politischen Ordnung sondern im Rahmen privater religiöser Vereinigungen zu verfolgen.
Geht man zunächst einmal davon aus, daß die Stiftung inneren Friedens die Kernfunktion politischer Ordnung ist, so kann man überlegen, was mindestens zu einer politischen Ordnung gehören muß, damit sie diese Kernfunktion erfüllen kann. Sicherlich sind für die Erfüllung der Kernfunktion der Friedenssicherung Herrschaftsinstitutionen notwendig, die die Einhaltung des Friedens garantieren. Weiterhin müssen sich die Herschaftsinstitutionen auf die Loyalität oder wenigstens den regelmäßigen Gehorsam der Bürger stützen können. Eine politische Ordnung, die die Kernfunktion der Friedenssicherung erfüllen soll, bedarf daher auch einer Legitimation, wozu mindestens eine politische Philosophie oder Herrschaftsideologie vorhanden sein muß, die den Bürgern den Zweck der politischen Ordnung erklärt. Dann könnte eingewandt werden, daß ein echter Frieden noch gar nicht vorhanden ist, solange nicht auch Gerechtigkeit herrscht. Es wären also auch noch Vorkehrungen für die Gerechtigkeit zu treffen usw. Führt man diese Überlegungen weiter fort, so gelangt man irgendwann einmal zu einer politischen Mindestordnung, die alles umfaßt, was notwendig ist, um die Kernfunktion der Friedenssicherung zu erfüllen. Gehört zu dieser Mindestordnung bereits die Funktion der Sinnvermittlung?[386] Nach den Überlegungen der vorhergehenden Abschnitte ist dies wahrscheinlich nicht der Fall, denn die politische Ordnung bedarf des Rückgriffes auf die spirituelle Erfahrung weder zur Legitimation noch um der Begründung verbindlicher Werte willen, noch ist die spirituelle Erfahrung bei der Bewältigung politischer Probleme von Vorteil. Also ist die Sinnvermittlungsfunktion, wenn überhaupt, eine rein optionale Funktion politischer Ordnung, soweit unter politischer Ordnung die eben angedeutete Mindestordnung zu verstehen ist. Neben der Sinnvermittlungsfunktion sind noch weitere solcher optionaler Funktionen politischer Ordnung denkbar (z.B. Sozialstaatlichkeit[387] ). Solche Funktionen der politischen Ordnung zuzurechnen, ist dann empfehlenswert, wenn ihre Erfüllung am ehesten oder sogar einzig und allein auf der Ebene der politischen Ordnung möglich ist, und wenn dabei keine gravierenden Nachteile entstehen. Nun kann die Sinnvermittlungsfunktion aber zweifellos auch anders als im Rahmen der politischen Ordnung erfüllt werden. Die Vermittlung von Lebensinn, die sinnhafte Deutung der Welt und die Erfüllung menschlicher Transzendenzbedürfnisse kann, wenn schon nicht individuell, so doch auf jeden Fall im Rahmen von Kirchen und Religionsgemeinschaften geleistet werden. Es tut der Spiritualität also keinerlei Abbruch, wenn ihr nur ein Platz außerhalb der politischen Ordnung angewiesen wird, während andererseits nicht einzusehen ist, welche Vorteile entstehen, wenn sie der politischen Ordnung aufgebürdet wird.
Die Tatsache, daß die Spiritualität keineswegs darunter leiden muß, wenn sie nicht als Bestandteil der politischen Ordnung betrachtet wird, scheint Voegelin zu übersehen, wenn er es den Gesellschaftsvertragstheorien zum Vorwurf macht, daß sie sich nur auf die leibliche Seite des Menschen konzentrieren und die geistige Seite des Menschen vernachlässigen.[388] Seinem Vorwurf liegt ein fundamentales Mißverständnis des Zweckes politischer Ordnung zu Grunde. Die Notwendigkeit politischer Ordnung entsteht letztlich aus dem Umstand, daß Menschen einander in die Quere kommen können und deshalb Abmachungen treffen müssen, damit dies nicht geschieht. Politik hat daher ihrem Wesen nach mehr mit der niederen, materiellen Sphäre der unumgehbaren Notwendigkeiten zu tun als mit der geistigen Sphäre. Es ist deshalb ein Irrtum, von der politischen Ordnung den Ausdruck spiritueller Wahrheit zu verlangen. Und der Verzicht darauf bedeutet keinesfalls eine Leugnung des Geistes, da gerade nach den liberalen Gesellschaftvertragstheorien die politische Ordnung gar nicht beansprucht, das ganze Wesen des Menschen zu umfassen.
Umgekehrt wäre es höchst prekär, religiöse Erfahrungen zu einer Angelegenheit von politischer Bedeutung zu erklären. Denn wenn die politische Ordnung auf eine Erfahrung der Transzendenz gegründet wird, dann wird die Religiosität zu einer Frage der politischen Ordnung. Sie dürfte dann nicht mehr im Belieben des Einzelnen stehen, was erhebliche Probleme für die Religionsfreiheit und Toleranz aufwirft. Dann wäre es in der Tat nur konsequent, nach dem Irrenarzt zu rufen, wenn es Menschen geben sollte, die es wagen, die Transzendenz zu leugnen. Ansonsten ist die Leugnung der Transzendenz eine sehr harmlose „Krankheit“, denn sie beeinträchtigt weder das Lebensglück der Befallenen, noch hindert sie sie daran, die Rechte ihrer Mitbürger zu respektieren.
Als Gesamtergebnis läßt sich festhalten, daß weder die politische Ordnung der Transzendenzerfahrungen bedarf, noch die Realisierung bzw. der Ausdruck der Transzendenzerfahrungen durch die politische Ordnung geschehen muß. Da andererseits die Forderung der Berücksichtigung spiritueller Erfahrungen bei der Gestaltung politischer Ordnung erhebliche ethische Bedenken hinsichtlich der Toleranz aufwirft, so ergibt sich, daß Transzendenzerfahrungen bei der Gestaltung der politischen Ordnung besser keine Rolle spielen sollten. Mit einem Wort: Wenn es Gott gäbe, müßte man ihn ignorieren - wenigstens in der Politik.
[385] Vgl. Thomas J. Farrell: The Key Question. A critique of professor Eugene Webbs recently published review essay on Michael Franz's work entitled “Eric Voegelin and the Politics of Spiritual Revolt: The Roots of Modern Ideology“, in: Voegelin Research News, Volume III, No.2, April 1997, auf: vax2.concordia.ca/~vorenews/v-rnIII2.html (Host: Eric Voegelin Institute, Lousiana State University. Zugriff am: 5.3.2000).
[386] Unter Sinnvermittlung ist zu verstehen, daß die politische Ordnung in ihrer Gestalt Ausdruck der in spiritueller Erfahrung erlebten sinnhaften Seinsordnung ist, die sie zugleich ihren Mitgliedern weitervermittelt. Dies trifft die Intention Voegelins besser als der (an sich verständlichere) Ausdruck Sinngebung, da nach Voegelins Verständnis die politische Ordnung keinesfalls die Quelle des Sinns ist, sondern idealiter in die sinnhafte Gesamtordnung der Welt eingebettet ist.
[387] Historisch hatte die Entwicklung des Sozialstaates natürlich durchaus einiges mit der Sicherung des inneren Friedens zu tun, aber für die theoretische Frage, ob und warum der Staat sozialstaatliche Aufgaben übernehmen soll spielen historisch-kontingente Tatsachen nur bedingt eine Rolle.
[388] Vgl. Voegelin, Anamnesis, S.341/342.