Die Bewußtseinsphilosophie Eric Voegelins (als Grundlage politischer Ordnung)

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
3 Voegelins Bewußtseinsphilosophie
4 Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
    4.1 Spirituelle Wahrheit und politische Ordnung bei Voegelin
    4.2 Gibt es spirituelle Sachzwänge?
    4.3 Bedarf die Legitimation der politischen Ordnung einer religiösen Komponente?
    4.4 Wertbegründung und -konsens in der pluralistischen Gesellschaft
    4.5 Sinngebung durch die politische Ordnung?
5 Schlußwort: Was bleibt von Eric Voegelin?
6 Literatur

4.1 Spirituelle Wahrheit und politische Ordnung bei Voegelin

Bereits bei der Untersuchung von Voegelins Bewußtseinsphilosophie fiel auf, daß die Zusammenhänge zwischen den sprituellen Erfahrungsgrundlagen politischer Ordnung und der politischen Ordnung selbst, die sich als rechtliche und institutionelle Ordnung einer Gesellschaft konkretisiert, merkwürdig im Dunkeln bleiben. Zwar läßt Voegelin keine Gelegenheit aus, um vor den verhängnisvollen Folgen zu warnen, die ein Verlust des Erfahrungskontaktes zum transzendenten Seinsgrund nach seiner Überzeugung unweigerlich nach sich zieht, aber diese Warnungen sind wissenschaftlich kaum präziser, als es die pauschale Behauptung wäre, daß das Unheil der Zeit eine Folge der menschlichen Gottlosigkeit sei. Alles läuft bei Voegelin letzlich auf die anthropologische These hinaus, daß der Mensch des Kontaktes zum Seinsgrund bedarf, um seine Existenz zu ordnen, und daß keine politische Ordnung erzielt werden kann, wenn nicht sowohl auf der Seite der Herrschenden als auch auf der Seite der Beherrschten der in genau dieser Weise existentiell geordnete Menschentypus dominiert. Man mag einwenden, daß Voegelin im Rahmen seiner bewußtseinsphilosophischen Untersuchungen aus Gründen der thematischen Beschränkung diese Punkte nur habe andeuten können. Doch auch in seinen anderen Schriften beschäftigt sich Voegelin fast ausschließlich mit der geistigen Seite politischer Ordnung und fast nie mit dem Zusammenhang der geistigen Grundlagen und der konkreten Machtordnung, wiewohl er an der Feststellung, daß zwischen beiden Bereichen eine enge Beziehung besteht, keinerlei Zweifel duldet.

Wie wenig erklärende Kraft Voegelins Theorie hat, wenn er tatsächlich einmal versucht, mit ihr die Ursachen gesellschaftlicher Unordnung zu beschreiben, läßt sich am besten an einem Beispiel nachvollziehen: In seinem 1959 gehaltenen Vortrag „Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt“ stellt Voegelin ein „Gesetz der westlichen Ordnung“ auf, welches besagt, daß es drei „Autoritätsquellen“ der Ordnung gibt, erstens die herrscherliche Macht, zweitens die Vernunftphilosophie und drittens die religiöse Offenbarung, und daß Ordnung herrscht, solange diese Autoritätsquellen relativ autonom voneinander bleiben, Unordnung aber dann, wenn sie zusammenfallen.[371] Verfolgt man nun Voegelins weitere Ausführungen zu diesem Gesetz, so springen einige Merkwürdigkeiten ins Auge: Zunächst einmal unternimmt Voegelin keinen Versuch, zu erklären, weshalb aus dem Zusammenfallen der drei Autoritätsquellen gesellschaftliche oder politische Unordnung resultiert. Solange Voegelin dies nicht demonstriert, liefert sein Gesetz nur eine willkürliche Definition von „Unordnung“, die mit innerem Unfrieden, chaotischen Zuständen oder tyrannischen Übergriffen des Staates gar nichts zu tun haben muß.[372] Des weiteren stützt sich Voeglins folgende Argumentation nur marginal auf das gerade erst aufgestellte Gesetz. Es zeigt sich, daß es Voegelin keineswegs auf die Autonomie der Autoritätsquellen ankommt, - sonst müßte er ja auch die Trennung von Staat und Kirche und die Abspaltung der Naturwissenschaft von der Philosophie befürworten[373] - sondern darauf, daß christlicher Glaube und Philosophie (mit der selbstverständlich nur die von Voegelin favorisierten Richtungen der Philosophie gemeint sind[374] ) einen bestimmenden Einfluß auf Gesellschaft und Politik erlangen. Dafür ist Voegelin sogar bereit, bemerkenswerte Einschränkungen der demokratischen Rechte hinzunehmen. So fordert er „sehr energisch mit Parteiverboten“[375] gegen Parteien „antichristlicher oder antiphilosophischer Art“[376] vorzugehen. Der Grund für diese radikale Forderung liegt dabei einzig in Voegelins vorgefaßter Meinung, daß die westlichen Demokratien sich nur halten können, wenn die Regierung im christlichen Geiste über eine weitgehend christliche Bevölkerung regiert.[377] Warum sie nur unter dieser Bedingung funktionieren können, dafür gibt Voegelin trotz seiner historisch weitausholenden Erörterungen keinerlei Begründung.

Ob die Berücksichtigung der spirituellen Erfahrung für die Herstellung politischer Ordnung überhaupt irgendwelche Vorteile erbringt, läßt sich nicht zuletzt deshalb nur schwer klären, weil Voegelin niemals deutlich mitteilt, von welcher Gestalt eine optimal erfahrungsbegründete politische Ordnung sein würde. Versucht man sich hilfsweise an Voegelins historische Beispiele zu halten, dann erhält man ein recht irritierendes Bild. So ist für Voegelin beispielsweise im christlichen Mittelalter vor der Reformation mit der Trennung von geistlicher und weltlicher Autorität bei der gleichzeitigen Legitimation und Gestaltung der weltlichen Ordnung nach religiösen Prinzipien eine optimale Verwirklichung spirituell erfahrungsbegründeter politischer Ordnung gegeben. Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins Einschätzung im mittelalterlichen Christentum die bislang größte Erfahrungshelle des Ordnungswissens erreicht worden ist. Gleichzeitig herrscht jedoch mit der hierarchischen Gesellschaftsform und dem feudalen Herrschaftssystem im Mittelalter eine politische Ordnung, die alles andere als human und gerecht ist. Ein weiteres irritierendes Beispiel stellt die politische Philosophie Platons dar. Für Voegelin war Platon ein Philosoph von größter Offenheit der Seele und höchster spiritueller Empfindsamkeit. Aber die politisch-institutionelle Ordnung, die Platon im „Staat“ entworfen hat, bildet geradezu das Musterbeispiel einer totalitären Schreckensutopie.[378] Hält man sich diese Beispiele vor Augen, so erscheint es geradezu absurd, daß Voeglin der Wiedererlangung einer spirituellen Realitätserfahrung vermittels der Öffnung der Seele eine so große Bedeutung bemißt. Eher müßte man den Schluß ziehen, daß für gute politische Ordnung ein niedriges spirituelles Niveau von Vorteil ist. Gewiß, die soeben gegebenen Beispiele sind Extrembeispiele, denn Voegelin befürwortete auch die amerikanische Demokratie, die in der Tat eine sehr erfolgreiche Verwirklichung humaner und gerechter politischer Ordnung darstellt, und nach Voegelins Ansicht steht der politischen Philosophie Platons die des Aristoteles, welche wesentlich vernünftiger ist, in nichts nach. Aber immer noch stellt sich dann die Frage, ob überhaupt eine Korrelation zwischen dem Niveau der spirituellen Erfahrung und der Güte der politischen Ordnung besteht.

Dieser Frage, ob politische Ordnung überhaupt eine spirituelle Grundlage benötigt, um eine erfolgreiche und gerechte politische Ordnung zu sein, soll im folgenden nachgegangen werden.

[371] Vgl. ebd., S.21-23.

[372] Dies gilt umso mehr, als nach Voegelins Gesetz auch im Reich des Kaisers Justinian, anhand von dessen constitutio imperatoria majestas Voegelin sein Gesetz entwickelt, größte Unordnung herrschen müßte, da ja der Kaiser alle drei Autoritätsquellen in seiner Person vereint.

[373] Vgl. ebd., S.31, S.34.

[374] Vgl. ebd., S.35.

[375] Ebd., S.33.

[376] Ebd.

[377] Vgl. ebd., S.32-33.

[378] Vgl. dazu die bekannte Kritik in: Karl Popper: Die offene Gesellschaft und ihre Feinde. Band I. Der Zauber Platons, 7.Aufl., Tübingen 1992, S.104ff. - Poppers Deutung ist freilich nicht unumstritten. Außer einem in der Tat verfälschenden Platon-Zitat auf dem Umschlag (in der Taschenbuchausgabe: S.9.) wird ihm unter anderem vorgeworfen, sich bei seiner Kritik an dem Personenzentrierten Ansatz Platons zu sehr auf den „Staat“ zu konzentrieren, und den stärker institutionellen Ansatz der „Gesetze“ zu vernachlässigen. Von dieser Kritik unberührt bleibt allerdings Poppers massiver Vorwurf der Inhumanität gegen Platon.

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