Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
    2.1 Was die Theorie der „Evolution der Kooperation“ zu erklären beansprucht
    2.2 Die Gestalt der Erklärungen der Theorie der „Evolution der Kooperation“
        2.2.1 Axelrod's Theorie der Evolution der Kooperation
        2.2.2 Schüßler über Kooperation unter Egoisten
        2.2.3 Hirschjagdspiel statt Gefangenendilemma
        2.2.4 Kooperation und Reputation
    2.3 Ein erfolgreicherer Typus von Theorie zum Vergleich: Die Logik des kollektiven Handelns
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

2.2.1 Axelrod's Theorie der Evolution der Kooperation

Axelrod ließ zunächst in einer Computersimulation eine Reihe von unterschiedlichen Strategien, die er nach einem öffentlichen Aufruf von unterschiedlichen Autoren zusgesandt bekommen hatte, im paarweisen Gefangenendilemma, jede Strategie gegen jede, gegeneinander antreten. In jedem Duell wurde für eine bestimmte (den Strategien aber nicht bekannte) Anzahl von Runden das Gefangenendilemma durchgespielt, in der Weise, dass die Spieler in jeder Runde die Wahl hatten, zu kooperieren oder zu „defektieren“, wobei die Strategien den bisherigen Spielverlauf bei dieser Entscheidung berücksichtigen konnten. Die Auszahlungen, die jede Strategie in jeder Runde erhielt, wurden aufsummiert. Sieger war diejenige Strategie, die am Ende die höchste Durchschnittspunktzahl hatte. (Nicht etwa diejenige, die die meisten Gegner besiegen konnte.) In zwei aufeinanderfolgenden Turnieren dieser Art, die Axelrod durchführte, gewann jedesmal die Strategie Tit For Tat, woraus Axelrod - nicht ganz zu unrecht - auf eine besondere Leistungsfähigkeit dieser Strategie schloss (Axelrod 1984, S. 25ff.). Axelrod beließ es aber nicht bei einem Turnier, in dem jede Strategie gegen jede andere antritt. In einem zweiten Schritt erweiterte er seine Computersimulation zu einer evolutionären oder, genauer gesagt, populationsdynamischen Simulation.[4] Dazu unterstellte er, dass erfolgreiche Strategien sich auf lange Sicht ausbreiten und weniger erfolgreiche Strategien verdrängen müssten. Das Ergebnis einer populationsdynamischen Simulations muss nun keineswegs dem Turnierergebnis entsprechen, denn solche Strategien, deren relativer Erfolg vor allem auf der Ausbeutung von „gutmütigen“ Strategien beruht, verlieren in der populationsdynamischen Simulation rasch an Boden, sobald die gutmütigen Strategien ausgestorben sind (was sie in der Regel als erstes tun). In einem Punkt stimmte bei Axelrod das Ergebnis der populationsdynamischen Simulation mit dem des Turniers allerdings überein: Auch in der populationsdynamischen Simulation konnte sich Tit For Tat durchsetzen (Axelrod 1984, S. 43ff.).

Dieses, wie sich bei später von anderen Wissenschaftlern durchgeführten ähnlichen Simulationen herausstellte (Binmore 1994, S. 194ff.), in gewisser Weise zufällige, für Axelrod aber dennoch bemerkenswerte Ergebnis, bewog ihn dazu, die Eigenschaften dieser Strategie näher zu untersuchen. Er stellte verschiedene Überlegungen dazu an, welche Eigenschaften eine Strategie erfolgreich machen, wobei am Wichtigsten seine Überlegungen zur kollektiven Stabilität sein dürften (Axelrod 1984, S. 50ff.). Kollektiv stabil ist eine Strategie, wenn in eine Population, die von dieser Strategie dominiert wird, keine andere Strategie eindringen kann. (Dabei vermied Axelrod wohlweislich den stärkeren Begriff der evolutionären Stabilität, denn in dem von ihm untersuchten Szenario ist keine Strategie tatsächlich evolutionär stabil.)

Die Ergebnisse seiner Computersimulation sowie der zusätzlichen Überlegungen versuchte Axelrod weiterhin auf empirische Beispiele aus verschiedenen Wissenschaftsbereichen, Biologie ebenso wie Politische Wissenschaften und Geschichte anzuwenden. Beispiele, die in seinen Augen, die theoretisch untersuchten Muster der Kooperation zeigten, waren unter anderem: biologische Mutualismen (Axelrod 1984, S. 80ff.), wie die Kooperation von Putzerfischen mit ihren Wirten; Koalitionsbildungen im Sinne wechselseitiger Zweckbündnisse in den Ausschüssen des amerikanischen Senats (Axelrod 1984, S. 5); das Leben- und Leben- Lassen System, das Historiker an einigen Frontabschnitten in bestimmten Phasen des ersten Weltkriegs dokumentiert hatten (Axelrod 1984, S. 67ff.). Die Muster der Kooperation, die sich in den empirischen Beispielen zeigten, gingen teilweise über das, was seine Computersimulationen offenbarten, hinaus. Axelrod sah darin jedoch weniger eine Schwäche seiner Theorie als eine Chance zu ihrer Erweiterung. Da einige dieser Beispiele im folgenden noch ausführlich erörtert werden, soll hier jedoch nicht weiter darauf eingegangen werden.

Im ganzen speist sich Axelrods Theorie der „Evolution der Kooperation“ also aus drei Quellen:

  1. Computersimulationen des wiederholten paarweisen Gefangenendilemmas, die Axelrod ziemlich extensiv interpretiert.
     
  2. Zusätzlichen Überlegungen, teils in Form mathematischer Beweisführung, teils aber auch rein pragmatischer Art. So z.B. wenn Axelrod die Empfehlung für die Praxis abgibt, nicht strikt Tit For Tat zu spielen, sondern gelegentlich auf Vergeltung zu verzichten (um einen Teufelskreis wechselseitiger Vergeltungen aufzubrechen). Diese Empfehlung wird durch seine eigenen Computersimultionen ja nicht gestützt, und sie resultiert außerdem in einer Strategie, die nicht mehr kollektiv stabil ist. Dennoch ist die Empfehlung, gelegentlich auf Vergeltung zu verzichten, zweifellos vernünftig, wenn man sich, das Modell einmal beiseite lassend, wirkliche Situationen vorstellt, in denen es um wechselseitige Kooperation geht.
     
  3. Der Betrachtung empirischer Beispiele, die teilweise Anlass zu Modifikationen und Erweiterungen der Theorie der „Evolution der Kooperation“ geben.

Trotz (oder gerade wegen) ihres außergewöhnlichen Erfolges hat Axelrods Theorie der „Evolution der Kooperation“ viel Kritik erfahren. Kritisiert wurde einerseits, dass Axelrod allzu weitreichende und oft voreilige Schlussfolgerungen aus seinen Computersimulationen gezogen hätte. In der Tat legten spätere Computersimulationen unter ähnlichen, aber nicht gleichen Simulationsbedingungen zum Teil ganz andere Schlussfolgerungen nahe (Binmore 1998, S. 313ff.). Damit offenbarte sich ein grundlegendes Problem von Axelrods Modell, nämlich dessen mangelnde Robustheit, indem schon geringfügige Abweichungen von der angenommenen Ausgangssituation bereits zu qualitativ anderen Resultaten führen. Auch hat man Axelrod mangelnde Berücksichtigung der Erkenntnise der klassischen Spieltheorie vorgeworfen (Binmore 1998, S. 316). So ergibt sich nämlich bereits aus dem sogenannten „Folk-Theorem“, dass jedes Muster mehr oder weniger großer wechselseitiger Kooperation in wiederholten Spielen stabilisiert werden kann, wenn man es nur mit einem entsprechend starken Sanktionsmechanismus (im Zweifelsfall anhaltende unwiederrufliche Defektion ab der ersten Abweichung vom Kooperationsmuster) kombiniert (Binmore 1998, S. 293ff.). Vor diesem Hintergrund erscheint der Erfolg von Tit For Tat nur als eine Möglichkeit unter vielen. Diese Kritik offenbart deutliche Schwächen von Axelrods Computersimulation, aber als Kritik an seiner Theorie im Ganzen ist sie insofern nicht ganz fair als Axelrod seine Bevorzugung von Tit For Tat, wie oben dargelegt wurde, durch zusätzliche Argumente untermauert hatte, die unabhängig von seiner spieltheoretischen Simulation waren. Insofern war Tit For Tat eben doch nicht nur eine unter vielen gleichwertigen Lösungsmöglichkeiten des Kooperationsproblems, welches das wiederholte Zwei-Personen-Gefangenendilemma aufwirft.

Kritisch beurteilt wurden andererseits aber auch manche von Axelrods empirischen Beispielen. Da die Schwierigkeiten der empirischen Anwendung aber auch das Hauptthema dieses Vortrags bilden, werden diese Einwände später, und dann ausführlich besprochen werden. Zunächst soll noch ein Blick auf die Weiterentwicklung von Axelrods Theorie durch seine Nachfolger geworfen werden. (Axelrod selbst hat seine Theorie nämlich - abgesehen von kleineren Varianten, darunter eine recht interessante, die die Evolution von Strategien mit Hilfe eines genetischen Algorithmus simuliert (Axelrod 1997) - kaum wesentlich weiterentwickelt.)

[4] Vereinfachte Beispiele dieser Art von populationsdynamischer Simulation sind in Anhang 5.1 wiedergegeben.

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