Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
    2.1 Was die Theorie der „Evolution der Kooperation“ zu erklären beansprucht
    2.2 Die Gestalt der Erklärungen der Theorie der „Evolution der Kooperation“
    2.3 Ein erfolgreicherer Typus von Theorie zum Vergleich: Die Logik des kollektiven Handelns
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

2.3 Ein erfolgreicherer Typus von Theorie zum Vergleich: Die Logik des kollektiven Handelns

Mancur Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ (Olson 1965) behandelt ebenfalls eine bestimmte Art von Kooperationsproblemen, nämlich die Frage, wie eine große Anzahl von Menschen, die ein gemeinsames Interesse an der Bereitstellung eines bestimmten Kollektivgutes hat, sich zusammenfinden und dazu organisieren kann, das Kollektivgut tatsächlich bereit zu stellen. In der Natur von Kollektivgütern liegt es nämlich, dass niemand von ihrer Nutzung ausgeschlossen werden kann, so dass natürlich jeder am liebsten als „Trittbrettfahrer“ von dem Kollektivgut profitieren würde, ohne selbst einen Beitrag zu seiner Bereitstellung zu leisten. Dies führt dann dazu, dass viele Kollektivgüter gar nicht erst bereitgestellt werden.

Wenn Olsons „Logik des kollektiven Handelns“ nun der „Theorie der Evolution der Kooperation“ gegenüber gestellt wird, dann liegt der Vorwurf nahe, dass „Äpfel mit Birnen“ verglichen werden, denn beide Theorien untersuchen - trotz gewisser Übereinstimmungen - unterschiedliche Fragestellungen und verfolgen einen unterschiedlichen Ansatz, so dass man die „Logik des kollektiven Handelns“ sicherlich nicht als eine Alternative zur Theorie der „Evolution der Kooperation“ in Erwägung ziehen kann. Allenfalls könnte man die „Logik des kollektiven Handelns“ als eine Theorie auffassen, die einen Spezialfall der „Evolution der Kooperation“ untersucht. Hinsichtlich dieses Spezialfalles (Kooperation bei der Erzeugung von Kollektivgütern) könnte man dann allerdings von einer Konkurrenz der beiden Theorien sprechen.[8] In unserem Zusammenhang kommt es aber weniger darauf an, ob die Logik des kollektiven Handelns ein Ersatz oder eine Alternative für einen Spezialfall der Theorie der „Evolution der Kooperation“ ist. Für uns ist vornehmlich von Interesse, weshalb die „Logik des kollektiven Handelns“ eine Theorie ist, die seit ihrer klassischen Formulierung durch Olson (die sich ihrerseits auf Paul A. Samuelsons „Pure Theory of Public Expenditure“ stützt[9] ) eine erstaunliche Erfolgsgeschichte aufweist, die sich vor allem in einer Vielzahl überaus wertvoller empirischer Fallstudien äußert, während die Methode von Axelrods „Evolution der Kooperation“ zwar ebenfalls zahlreiche Nachahmer gefunden hat, ohne dass sie auch nur annährend in demselben Maße Bestätigung durch handfeste empirische Forschungsergebnisse gefunden hätte.

Um diese Frage genauer zu klären, lohnt es sich die „Logik des kollektiven Handelns“ ein wenig näher zu betrachten. Die „Logik des kollektiven Handelns“ beruht, ähnlich wie die Theorie der „Evolution der Kooperation“, auf einigen wenigen, sehr einfachen Grundgedanken. So ergibt sich für Olson aus der Annahme eigennütziger Rationalität, dass ein kollektives Gut nur dann bereit gestellt werden wird, wenn der zusätzliche Nutzen, den ein Individuum durch seinen Beitrag zur Bereitstellung des Gutes erhählt größer ist als die Kosten, die durch die Beteiligung an der Bereitstellung für das Individuum entstehen. (Wichtig ist, dass der zusätzliche Nutzen mit den Kosten für das Individuum verglichen wird, denn dass der Gesamtnutzen des kollektiven Gutes für ein Individuum seine Kosten übertrifft versteht sich von selbst, da es sich sonst nicht um ein kollektives, im Grunde sogar um überhaupt kein Gut mehr handeln würde.) Dieser Zusammenhang kann auch in einer sehr einfachen Formel ausgedrückt werden: A_i = V_i - C wobei A_i der relative zusätzliche Nutzen des i-ten Individuums ist, der sich aus dem zusätzlichen Nutzen V_i minus den Kosten C, die als konstant angenommen werden,[10] zusammensetzt. Damit es zur Bereitstellung des Kollektivguts kommt muss A_i > 0 gelten. Äquivalent dazu kann die Bedingung auch als V_i > C oder als V_i/C > 1 ausgedrückt werden. Ist diese Bedingung nicht gegeben, dann müssen schon besondere Umstände eintreten, damit es zur Bereitstellung eines Kollektivgutes kommt. Ein wesentlicher Teil der Theorie des kollektiven Handelns ist diesen Umständen und Voraussetzungen gewidment, die die Bereitstellung kollektiver Güter ermöglichen, selbst wenn die Bedingung A_i > 0 nicht erfüllt ist. Eine solche Möglichkeit besteht in der Koppelung mit Nebenprodukten, die nur denjenigen zugänglich sind, die sich an der Bereitstellung eines kollektiven Gutes beteiligen.

Eine weitere wichtige Frage für die Theorie der „Logik des kollektiven Handelns“ ist die Frage, wann A_i > 0 gegeben ist und wann nicht. Dies hängt in hohem Maße von der Art des Kollektivgutes ab, die einschlägige Forschung hat dafür mittlerweile differenzierte Typologien von Kollektivgütern entwickelt. Eine Verallgemeinerung, die in vielen, aber nicht in allen Fällen als Faustregel gültig ist,[11] besagt, dass kleine Gruppen meist in der Lage sind ein Kollektivgut bereit zu stellen, während große Gruppen dazu in der Regel unfähig sind. Dieser Zusammenhang gilt übrigens auch unabhängig von den Transaktionskosten oder Organisationsproblemen, die die Bereitstellung von Kollektivgütern in großen Gruppen noch zusätzlich erschweren.

Ohne dass es hier im Einzelnen ausgeführt werden könnte, ist die Logik des kollektiven Handelns - wie schon bemerkt - eine überaus erfolgreiche und vor allem auch empirisch ungemein fruchtbare Theorie. Welche Merkmale dieser Theorie haben zu ihrem Erfolg beigetragen?

  1. Die Grundannahmen der Theorie und dementsprechend auch die formalen Modelle, die sich auf dieser Grundanlage konstruieren lassen, erweisen sich als überaus robust. So ist der qualitative Zusammenhang zwischen der Gruppengröße und der Fähigkeit zur Bereitstellung eines Kollektivgutes weitgehend invariant gegenüber Parameterschwankungen.[12]
     
  2. Die Theorie der „Logik des kollektiven Handelns“ verfolgt eine klare Zielsetzung und verfügt über einen deutlich abgegrenzten Anwendungsbereich. Anders als bei der Theorie der „Evolution der Kooperation“ lässt sich leicht entscheiden, ob ein Problem in den Anwendungsbereich dieser Theorie fällt oder nicht.
     
  3. Zugleich ist die „Logik des kollektiven Handelns“ aber auch abstrakt genug um eine Vielzahl unterschiedlicher Kollektivgutprobleme (vom Umweltschutz bis zu Fragen der Gewerkschaftsorganisation) unter einer vereinheitlichten Beschreibung zusammenzufassen. Nicht zuletzt darauf beruht ihre erklärende Kraft.

Besonders der letzte Punkt verdient es hervorgehoben zu werden. Es scheint nämlich, dass die „Logik des kollektiven Handelns“ genau das richtige mittlere Niveau der Abstraktion trifft, indem sie eine vereinheitlichende Erklärung für eine Vielzahl von Einzelphänomenen bietet, aber zugleich die Abstraktion nicht soweit treibt, dass sie inhaltlich gehaltlos würde. Man muss sich daran erinnern, dass in den Gesellschaftswissenschaften (anders als manchmal in den Naturwissenschaften) Abstraktion fast immer durch einen inhaltlichen Gehaltsverlust erkauft wird. Solche schönen Paradebeispiele wie die Newtonsche Gravitationstheorie, auf die sich die Keplerschen Gesetze der Himmelmechanik (die „Weltharmonien“, wie Kepler sie nannte) ebenso wie Galileis Fallgesetze ohne Verlust ihres Gehaltes zurückführen lassen, gibt es in den Gesellschaftswissenschaften leider nicht. Natürlich könnte man die „Logik des kollektiven Handelns“ noch weiter abstrahieren und Kollektivgüterprobleme z.B. als Gefangenendilemma auffassen. Aber auf dieser Abstraktionsstufe lassen sich die ceteris paribus Bedingungen (d.h. die Bedingunen, unter denen Ausnahmen von der Theorie auftreten können), die man, wenn man weiss, dass es um Kollektivgüter geht, noch einigermaßen im Blick behalten kann, kaum noch handhaben.

Die Theorie der „Evolution der Kooperation“, die zunächst ohne bestimmten Anwendungsbezug, wenn auch mit der Hoffnung auf eine Vielzahl von Anwendungsmöglichkeiten in den unterschiedlichsten Wissenschaftszweigen, entwickelt wurde, scheint in dieser Hinsicht einen weniger glücklichen Ausgangspunkt gewählt zu haben. Es kann daher die Vermutung aufgestellt werden, dass sich die Theorie der „Evolution der Kooperation“, wenn sie nicht abstirbt, in Zukunft in eine Anzahl eigenständiger Theorien, mit jeweils eigenem Anwendungsgebiet aufspaltet.

[8] Russel Hardin deutet die Logik des kollektiven Handelns in der Tat so, dass sie eine Gefangenendilemma-Situation darstellt (Hardin 1982, S. 16ff.). Diese Deutung ist allerdings keinesfalls für alle Kollektivgüterprobleme zwingend. In vielen Fällen wäre das Hirschjagdspiel eine adäquatere spieltheoretische Darstellung für Kollektivgüterprobleme.

[9] Die Wurzeln der Theorie reichen natürlich noch weiter zurück. Zu erwähnen wäre hier etwa Humes berühmtes Beispiel von den Dorfbewohnern, die es nicht fertigbringen, gemeinsam für die Bewässerung ihrer Weiden zu sorgen, obwohl es in jedermanns Interesse läge (Hume 1739, S. 590). Und es wäre eher verwunderlich, wenn mann nicht schon bei den antiken Philosophen auf eine Beschreibung dieses Problems stoßen könnte, das sich der politischen Alltagserfahrung doch geradezu aufdrängt.

[10] Um die Darstellung nicht unnötig kompliziert werden zu lassen, wird hier nur vom allereinfachsten Fall ausgegangen

[11] Wissenschaftstheoretisch gesprochen handelt es sich dabei um ein ceteris paribus Gesetz. Da man die ceteris paribus Bedingungen allerdings anhand der oben erwähnten Typologien relativ präzise angeben kann, bleibt dies weitgehend unproblematisch.

[12] Wobei allerdings zu beachten ist, dass dieser Zusammenhang anders als Olson manchmal suggeriert nur für bestimmte Typen von Kollektivgütern gilt.

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