Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
    3.1 Sozialwahltheorie
    3.2 Zur Diskussion der Sozialwahltheorie
        3.2.1 Der Satz von Arrow als Widerlegung der „identären“ Demokratie
            3.2.1.1 Die „Identitätstheorie der Demokratie“
            3.2.1.2 Die Frage der Durchschlagskraft der auf den Satz von Arrow gestützten Kritik an der Identitätstheorie
                a) Relevanz der auf Arrow gestützten Kritik der „Identitätstheorie“
                b) Die Gültigkeit der Voraussetzungen des Satzes von Arrow
                c) Die Frage der empirischen Möglichkeit und Häufigkeit von „Problemfällen“ bei der Aggregation von individuellen Präferenzen
            3.2.1.3 Eine „strukturelle Konzeption kollektiver Rationalität“ als Alternative?
    3.3 Die These des „demokratischen Irrationalismus“
    3.4 Fazit
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

c) Die Frage der empirischen Möglichkeit und Häufigkeit von „Problemfällen“ bei der Aggregation von individuellen Präferenzen

Das Paradox des Liberalismus und der Satz von Arrow zeigen, dass eine bestimmte Menge von wünschenswerten Bedingungen nicht miteinander vereinbar sind. Die Beweise beruhten unter anderem darauf, dass die Bedingung des unbeschränkten Bereichs in der Weise ausgenutzt wurde, dass gezielt solche Profile individueller Präferenzen konstruiert wurden, für die die Erfüllung der anderen Bedingungen nicht mehr möglich ist. Diesen Sachverhalt kann man aber auch so zu interpretieren versuchen, dass das Condorcet Paradox, der Satz von Arrow oder das Paradox des Liberalismus und andere verwandte Theorme in der Praxis nur ganz bestimmte Problemfälle betreffen. So entsteht die zyklische Präferenzverteilung beim Condorcet-Paradox nur bei ganz bestimmten, „unglücklich“ verteilten individuellen Präferenzen. Insofern muss das Condorcet-Paradox nicht bedeuten, dass demokratische Abstimmungsverfahren grundsächtlich nicht robust wären (in dem Sinne, dass sie keine wohlgeordneten kollektiven Präferenzen liefern). Es bedeutet zunächst nur, dass sie in besonderen Fällen nicht robust sind. Die Frage, die sich dann stellt, ist diejenige, wie häufig derartige Fälle vorkommen, d.h. ob es sich dabei um seltene Einzelfälle oder um einen häufig auftretenden Regelfall handelt. Diese Frage kann man auf unterschiedliche Art und Weise untersuchen: 1) Durch analytische Überlegungen betreffend die Häufigkeit bzw. Wahrscheinlichkeit von Präferenzprofilen, die z.B. zu zyklischen kollektiven Präferenzen führen, 2) durch Computersimulationen und 3) empirisch, indem man nach Beispielen sucht, wo entsprechende Präferenzprofile aufgetreten sind. Eine ausführliche Übersicht über derartige Studien (weiter unten mehr dazu) liefert Gerry Mackie (Mackie 2003, S. 46ff.), der zu dem Ergebnis kommt, dass die Problemfälle logisch möglich aber empirisch eher unwahrscheinlich sind.[44]

Man könnte an dieser Stelle immer noch den Einwand vorbringen, dass demokratische Abstimmungs- und Entscheidungsprozesse sich gerade in solchen (wenn auch seltenen) kritischen Ausnahmefällen bewähren sollten. Dazu ist zweierlei zu sagen:

  1. Wenn die „Problemfälle“ wirklich nur selten sind, dann genügt dies bereits um die These der „analytischen“ Widerlegung der identären Demokratie durch Arrow (Nida/Ruemelin 1991) bzw. der mit Arrow begründeten Unfähigkeit demokratischer Entscheidungsverfahren, den „Volkswillen“ zum Ausdruck zu bringen (Riker 1982) zu erschüttern.
     
  2. Treten die „Problemfälle“ nur selten auf, dann erscheint - rein technisch betrachtet - folgende Abhilfe denkbar. Man verwende irgendein einigermaßen brauchbares Abstimmungsverfahren, z.b. Condorcet (parweise Abstimmung zwischen allen Paaren von Alternativen). Treten zyklische Präferenzen auf, schalte man auf einer anderes Abstimmungsverfahren, z.B. Borda-Zählung (siehe Übungsaufgabe 3.4.1, Seite 3.4.1) um. Durch den Satz von Arrow ist zwar klar, dass auch ein solches kombiniertes Verfahren nicht alle Bedingungen erfüllen kann. So verletzt z.B. das Borda-Verfahren die Bedingung der paarweisen Unabhängigkeit. Aber da es als Teil eines kombinierten Verfahrens auftritt, muss diese Verletzung nur noch in den (vermutlich) wenigen Fällen in Kauf genommen werden, in denen das Condorcet-Verfahren intransitive Präferenzen liefert.

[44] Mackie reagiert damit auf die gegenteilige These William Rikers (Riker 1982, S. 119ff.).

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