Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
    3.1 Voegelins theoretischer Ansatz
        3.1.1 Die Kritik des Positivismus
        3.1.2 Politikwissenschaft als Ordnungswissenschaft
            3.1.2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung
            3.1.2.2 Der Begriff der „Erfahrung“ als Zentralbegriff von Voegelins Theorie politischer Ordnung
            3.1.2.3 Von der Ordnungserfahrung zur politischen Ordnung
            3.1.2.4 Probleme der Voegelinschen Konzeption politischer Ordnung
    3.2 Voegelins Geschichtsdeutung
    3.3 Gnosisbegriff und Zeitkritik
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

3.1.2.1 „Artikulation“ und „Repräsentation“ als Grundfunktionen politischer Ordnung

Im Zentrum des nicht-normativen Teils des politikwissenschaftlichen Programms der „Neuen Wissenschaft der Politik“ stehen die Begriffe der Artikulation, der Repräsentation und der Erfahrung. Unter Artikulation versteht Voegelin den Prozess der Entstehung einer politischen Gesellschaft. Voegelin spricht auch davon, dass sich eine Gesellschaft „zur historischen Existenz“ artikuliert.[39] Den Ausdruck „Artikulation“ gebraucht Voegelin deshalb, weil die Symbole, mit denen eine Gesellschaft ihr Selbstverständnis ausdrückt, in seinen Augen bereits einen wesentlichen Teil der gesellschaftlichen Wirklichkeit ausmachen und dadurch die politische Gemeinschaft recht eigentlich erst hervorbringen.[40] Voegelin bezeichnet diesen Komplex von Symbolen, die das Selbstverständnis einer Gesellschaft ausdrücken, auch als „Symbolismus“.[41] In dem Ausdruck „Artikulation“ klingt darüber hinaus etwas von Voegelins spezifischem Verständnis von politischer Ordnung an. Voegelin zufolge äußern die politischen Gesellschaften nicht bloß irgendein beliebiges Selbstverständnis, sondern durch ihre Ordnung „artikulieren“ sie zugleich ihr Verständnis der Ordnung des Seins.[42]

Zur Artikulation, d.h. zur Entstehung und Erhaltung einer politischen Gesellschaft gehört aber auch eine Form herrschaftlicher Organisation dieser Gesellschaft. Diesen Aspekt beschreibt Voegelin mit dem Begriff der Repräsentation. Unter Repräsentation versteht Voegelin, abweichend von der im politikwissenschaftlichen Kontext üblichen Bedeutung von Repräsentation als demokratischer Volksvertretung, eine herrschaftliche Vertretung beliebiger Art im politischen Handeln der Gesellschaft.[43] Voegelin unterscheidet drei Ebenen der Repräsentation: deskriptive Repräsentation, existenzielle Repräsentation und transzendente Repräsentation. Unter deskriptiver Repräsentation versteht Voegelin ein beliebiges System institutioneller Regelungen, welches handlungsbevollmächtigte Vertreter einer politischen Gemeinschaft hervorbringt. Ausgeschlossen bleiben auf dieser Ebene noch Fragen wie die nach der Legitimität, Effizienz und auch der tieferen Wahrheit eines solchen Systems.[44] Von existenzieller Repräsentation spricht Voegelin, wenn eine „deskriptive Repräsentation“ vorliegt, durch die eine Herrschaft hervorgebracht wird, deren Anordnungen Gehorsam finden und die in der Lage ist, die vitalen Bedürfnisse einer politischen Gesellschaft (also Schutz nach außen und Sicherheit im Inneren) zu garantieren. Der Begriff entspricht weitgehend dem, was man üblicherweise eine legitime Herrschaft nennt.[45]

Bis zu diesem Punkt bietet Voegelin, abgesehen von seiner eigenwilligen Terminologie, nichts Ungewöhnliches. Ein grundlegend neuer Aspekt tritt jedoch mit der dritten Bedeutungsebene von Voegelins Repräsentationsbegriff, der „transzendenten Repräsentation“, hinzu. Die transzendente Repräsentation bezieht sich nicht mehr nur auf Regierung und Herrschaft, sondern auf die politische Ordnung einer Gesellschaft im Ganzen. Alle politischen Gesellschaften halten ihrem Selbstverständnis nach ihre eigene politische Ordnung für die wahre Ordnung. Voegelin fasst dies so auf, dass die politischen Gesellschaften durch ihre politische Ordnung eine höhere Wahrheit repräsentieren.[46] So glaubten etwa die Menschen in Mesopotamien oder im alten Ägypten, dass sich in ihrer politischen Ordnung die Ordnung des Kosmos widerspiegele bzw. fortsetze. Doch ist dies nicht die einzige Möglichkeit der Wahrheitsrepräsentation. In Platons idealem Staat etwa repräsentiert die politische Ordnung eine Wahrheit, derer der Philosoph im Inneren seiner Seele gewahr wird. Voegelin sieht deshalb im Auftreten Platons den Durchbruch zu einem neuen Typus von transzendenter Repräsentation.[47]

[39] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 61., S. 67.

[40] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 50.

[41] Der Ausdruck „Symbolismus“ könnte an Ernst Cassirers „Philosophie der symbolischen Formen“ angelehnt sein. Auch Cassirer hält die Fähigkeit, Symbole zu bilden, für eine menschliche Leistung sui generis und betrachtet den Begriff der „symbolischen Form“ daher als einen irreduziblen Grundbegriff der Humanwissenschaften, ohne allerdings so weitreichende Konsequenzen zu ziehen wie Voegelin. Vgl. Ernst Cassirer: Versuch über den Menschen. Einführung in eine Philosophie der Kultur, Hamburg 1996, S. 49.

[42] In der „History of Political Ideas“ spricht Voegelin noch etwas plastischer von „Evokation“. (Vgl. Voegelin, „Introduction“ zur „History of Political Ideas“, S. 23ff.) Möglicherweise erschien Voegelin der Ausdruck „Evokation“ später zu relativistisch, indem dieses Wort suggeriert, dass die „evozierte“ Realität ein gesellschaftliches Artefakt ist und nicht Ausdruck von spirituellen Erfahrungen.

[43] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 60 unten, S. 61 oben, wo sehr deutlich wird, dass Voegelin mit „Repräsentation“ eigentlich eher Herrschaft als Repräsentation im Sinne einer ganz bestimmten, nämlich demokratischen Form der Herrschaftsbestellung meint. - Die Verworrenheiten von Voegelins Repräsentationsbegriff sind mit größter Klarheit von Hans Kelsen aufgedeckt worden. Vgl. Kelsen, A New Science of Politics, a.a.O., S. 29-76. - Vgl. auch Arnold, Nachwort zu Kelsens Voegelin-Kritik, S. 122ff.

[44] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 57. - Auch wenn Voegelin es anfangs so erscheinen lässt, deckt sich sein Begriff deskriptiver Repräsentation nicht mit dem in der (westlichen) Politikwissenschaft üblichen Begriff von Repräsentation, denn das herkömmliche Verständnis von Repräsentation umfasst auch den Legitimitätsaspekt und beschränkt den Begriff andererseits auf die demokratische Repräsentation, so dass es ein klarer Missbrauch dieses Ausdruckes wäre, so wie Voegelin es tut, im Falle des Sowjetsystems von repräsentativer Regierung zu reden. Vgl. dazu Kelsen, A New Science of Politics, S. 41.

[45] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 77.

[46] Vgl. Voegelin, S. 81ff.

[47] Vgl. Voegelin, Neue Wissenschaft der Politik, S. 93.

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