Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
    2.1 Thema
    2.2 Methode
    2.3 Quellen und Sekundärliteratur
    2.4 Aufbau
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

2 Einleitung

2.1 Thema

Das Thema dieses Buches ist die Bewusstseinsphilosophie Eric Voegelins.[6] Sie wird untersucht unter dem besonderen Aspekt der Begründung politischer Ordnung durch religiöse Bewusstseinserfahrungen.

Eric Voegelin vertrat die etwas eigentümliche und in der heutigen Zeit im westlichen Kulturkreis eher befremdlich wirkende Auffassung, dass die religiösen Erfahrungen des Menschen eine notwendige Grundlage politischer Ordnung bilden. Damit ein politisches Gemeinwesen über eine stabile und im ethischen Sinne gute politische Ordnung verfügt, genügt es nach Voegelins Ansicht keineswegs, wenn sich diese Ordnung auf ein ausgeklügeltes System von Institutionen und auf eine wohldurchdachte Verfassung stützt. Für Voegelin muss die politische Ordnung darüber hinaus tief im religiösen Empfinden der Bürger verwurzelt sein. Nur dann kann sie eine ausreichende Resistenz gegenüber inneren und äußeren Anfechtungen entwickeln, und nur dann kann ihr eine ethische Qualität zugesprochen werden. In diesem Buch soll kritisch hinterfragt werden, ob die religiöse Erfahrung tatsächlich eine notwendige Voraussetzung politischer Ordnung bildet und ob eine solche Grundlegung der politischen Ordnung überhaupt wünschenswert ist.

Wenn für Voegelin die politische Ordnung im religiösen Empfinden oder, um es in seiner eigenen Terminologie zu formulieren, in den existentiellen „Erfahrungen“ der Bürger verwurzelt sein muss, so ist dies bei Voegelin nicht in der Weise zu verstehen, dass der Staat den religiösen Bereich der menschlichen Natur für seine Zwecke einspannen soll, wie dies die totalitären Staaten anstreben. Das religiöse Empfinden geht nicht vom Staat oder vom gesellschaftlichen Kollektiv aus, sondern es entspringt dem existentiellen Erleben des Einzelnen, und nach Maßgabe dieses im individuellen Erleben verankerten religiösen Empfindens muss die politische Ordnung gestaltet werden. Damit dies funktioniert, ist natürlich die Intaktheit des religiösen Empfindens von größter Bedeutung. Die intakte „Ordnungserfahrung“ bildet für Voegelin nicht nur eine notwendige Voraussetzung (guter) politischer Ordnung, sie stellt auch eine, zwar nicht unbedingt allein hinreichende, aber doch stark begünstigende Bedingung dar, gegenüber der alle pragmatischen Probleme politischer Ordnung, wie z.B. die Einzelheiten der Verfassungsordnung, vergleichsweise sekundär sind.

Kommt dem Unterschied zwischen intaktem und nicht intaktem religiös-existentiellen Empfinden eine derartig große Bedeutung zu wie bei Voegelin, so ergibt sich, dass die politische Philosophie einer Auseinandersetzung mit der Religion auf der inhaltlichen Ebene der religiösen Dogmen und Erfahrungen[7] nicht ausweichen kann. Wie kann aber hier zwischen echt und unecht, zwischen richtig und falsch unterschieden werden? Voegelin verfolgt in dieser Frage einen zweifachen Ansatz. Zum einen geht er historisch vor, indem er sich bemüht, die geschichtlichen Entwicklungsprozesse religiöser Erfahrung nachzuzeichnen und dabei die „differenziertesten“ Stufen religiös-existentiellen Welterlebens ausfindig zu machen. Zum anderen versucht Voegelin, auf bewusstseinsphilosophischem Wege das Wesen der religiösen bzw. existentiellen Erfahrungen zu ergründen und in unmittelbarer Selbsterfahrung nachzuvollziehen. Da letzten Endes auch die historische Beurteilung religiöser Erfahrungen nur am Maßstab der bewusstseinsphilosophisch ermittelten Wesensauffassung möglich ist, muss der bewusstseinsphilosophische Ansatz als der grundlegendere dieser beiden Ansätze angesehen werden. Diesem Buch liegt daher die Interpretationsannahme zu Grunde, dass die Bewusstseinsphilosophie Voegelins innerhalb der Systematik seines Gedankengebäudes das Zentrum einnimmt.[8]

Voegelin geht es nicht darum, empirisch den Zusammenhang zwischen vorfindlichen politischen Ordnungsgefügen und den sie fundierenden religiösen Erfahrungen aufzuweisen. Vielmehr verfolgt Voegelin in erster Linie die normative Absicht, durch die bewusstseinsphilosophische Aufdeckung der religiösen Erfahrungsquellen die verbindliche Grundlage einer humanen und totalitarismusresistenten politischen Ordnung für die Gegenwart zu finden, welche für ihn in vielen westlichen Demokratien, die ihm in Ermangelung religiöser Grundlagen auf Sand gebaut schienen, noch unzureichend verwirklicht war. In diesem Buch steht die Untersuchung dieses normativen Aspektes im Vordergrund. Es geht mir nicht um die Frage, ob Voegelins Modellvorstellung von politischer Ordnung auf das alte Ägypten oder das römische Kaiserreich anwendbar ist, sondern es soll versucht werden zu klären, ob Voegelins Vorstellungen in der heutigen Zeit unter den Bedingungen pluralistischer und sich entwickelnder multikultureller Gesellschaften noch tragfähig sind und normative Gültigkeit beanspruchen dürfen. Letzteres ist natürlich nicht nur eine Frage von Zeitumständen, sondern vor allem eine Frage der Begründungsqualität.

[6] Zur Biographie: Eric Voegelin wurde 1901 in Köln geboren. 1922 Promotion bei Hans Kelsen und Othmar Spann. 1929-38 Privatdozent und außerordentlicher Professor für Staats- und Gesellschaftslehre in Wien. 1938 Flucht vor den Nazis in die USA. 1942-58 Professor of Gouvernment an der Lousiana State University in Baton Rouge. 1958 Professor für Politikwissenschaft in München. 1969 Rückkehr in die USA. 1974 Senior Research Fellow an der Hoover Institution on War, Revolution and Peace in Stanford. 1985 Tod. (Angaben aus: Michael Henkel: Eric Voegelin zur Einführung, Hamburg 1998, S. 13-35, S. 198-199.)

[7] Voegelin beschränkt sich auf die Erfahrungen, da seinem eher mystischen Religionsverständnis gemäß auch die Dogmen nur Ausdruck von religiösen Erfahrungen (und nicht von offenbartem Wissen) seien können.

[8] Diese Annahme entspricht Voegelins Selbstdeutung. Vgl. Eric Voegelin: Anamnesis. Zur Theorie der Geschichte und Politik, München 1996, im folgenden zitiert als: Voegelin, Anamnesis, S. 7.

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