Kann die evolutionäre Spieltheorie die Entstehung von Kooperation erklären?
Studie über die Schwächen eines formalen Ansatzes

Eckhart Arnold

1 Einleitung
2 Die Theorie der „Evolution der Kooperation“
3 Die Erklärungsdefizite der Theorie der „Evolution der Kooperation“
    3.1 „Leben und leben lassen“ im ersten Weltkrieg
    3.2 Stichlinge und Buntbarsche
    3.3 Wenn weiche Wissenschaft harte Wissenschaft schlägt: Spieltheorie und klassische Gesellschaftsvertragstheorie
4 Fazit
5 Anhang: Quellcodes und Beispielsimulationen
6 Revisionsgeschichte
Literaturverzeichnis

3.3 Wenn weiche Wissenschaft harte Wissenschaft schlägt: Spieltheorie und klassische Gesellschaftsvertragstheorie

Dass ein erfolgreicher wissenschaftlicher Ansatz auf Nachbargebiete ausstrahlt, ist kein ungewöhnliches Phänomen. Ebenso, dass neue Paradigmen den Stil prägen, in dem über alte philosophische Probleme nachgedacht wird und den Jargon, in dem über sie geschrieben wird. So ist es auch keineswegs verwunderlich, dass spieltheoretische Denkweisen vielfach die Art und Weise bestimmen, wie heute über die Probleme der klassischen Gesellschaftsvertragstheorie geredet wird. Dabei ist zu unterscheiden, ob die Spieltheorie nur als Ideenlieferant wirkt, oder ob sie es uns erlaubt die Gesellschaftsvertragstheorie durch eine exaktere wissenschaftliche Darstellung auf ein höheres Niveau zu heben.

In der Tat gibt es Autoren, die die letztere Auffassung ernsthaft zu vertreten scheinen. Bis zu einem gewissen Grade scheint diese Auffassung sogar schon Allgemeingut geworden zu sein. So ist beispielsweise in einer jüngeren Einführung in die Philosophie zu lesen: „It would be interesting and important if we could make more precise the sort of argument Hobbes offered, so that we could say just why it is that the advantages of civil society over the state of nature ought to appeal to anyone.“ (Appiah 2003, S. 232) Im Anschluss an diese Bemerkung beginnt der Autor damit, die Spieltheorie und insbesondere das Gefangenendilemma als diejenigen Mittel vorzustellen, die - so muss der Leser annehmen - es erlauben, das Argument von Thomas Hobbes präziser auszuführen. In ähnlicher Weise hat, wie weiter oben bereits erläutert, auch Rudolf Schüßler seine Simultionsexperimente damit motiviert, einen Beitrag zur Erörterung des Hobbesschen Problems zu liefern, wobei er allerdings einräumt, dass der Ausdruck „Hobbessches Problem“ eher eine beliebige Bezeichnung für das Problem ist, ob und wie rationale Egoisten ohne den Zwang durch eine Zentralgewalt zu kooperativem Verhalten bewogen werden können, und nicht unbedingt der Intention von Hobbes' Gesellschftsvertragstheorie entsprechen muss. Schließlich könnte man noch auf eine nicht geringe Anzahl weiterer Fachpublikationen hinweisen, die die Gesellschaftsvertragstheorie unter spieltheoretischer Perspektive betrachten. Als Beispiel sei hier nur Brian Skyrms „Game Theory and the Evolution of the Social Contract“ herausgegriffen, worin der Autor einige Modelle der evolutionären Spielthreorie vorstellt, die sich weitläufig auf die Gesellschaftsvertragstheorie beziehen lassen.

Erlaubt uns die evolutionäre Spieltheorie also die Diskussion über den Gesellschaftsvertrag, wie sie von Hobbes, Locke, den Autoren der Federalist Papers und anderen geführt wurde, heutzutage mit Erkenntnissen exakter Wissenschaft zu unterfüttern? Ohne nun auf einzelne Autoren näher einzugehen, soll diese Frage von ihrer grundsätzlichen Seite her betrachtet werden. Dazu wird zunächst in aller Knappheit die klassische Gesellschaftsvertragstheorie beschrieben, um anschließend zu untersuchen, wie sich die Befunde der evolutionären Spieltheorie darin einfügen.

Wenn von Gesellschaftsvertragstheorie die Rede ist, dann sind zwei Betrachtungsebenen zu unterscheiden:

  1. Die normative Gesellschaftsvertragstheorie, die sich mit der Rechtfertigung von staatlicher Herrschaft überhaupt befasst, sowie damit, wie ein Gesellschftsvertrag beschaffen sein muss, um eine vernünftige und gerechte Ordnung zu stiften.
     
  2. Die empirische Gesellschftsvertragstheorie, die sich mit der Frage beschäftigt, wie die bestehende politische Ordnung sich tatsächlich historisch entwickelt hat, und in welchem Rahmen und innerhalb welcher Spielräume sie weiterentwickelt werden kann.

Die klassische Darstellung der normativen Gesellschaftsvertragstheorie hat - wenn man von den ähnlichen aber nicht deckungsgleichen antiken Vorläufertheorien bei den Sophisten einmal absieht - Thomas Hobbes in seinem „Leviathan“ geliefert (Hobbes 1651). Thomas Hobbes stützte die Rechtfertigung von politischer Herrschaft (in seinem Fall in Form eines absolutistischen Staates) auf die Beschreibung eines fiktiven Naturzustandes. Im Naturzustand, so Hobbes, herrscht ein Krieg aller gegen alle, niemand ist seines Lebens sicher und das Leben jedes einzelnen ist „armselig, ekelhaft ... und kurz“ (Hobbes 1651, S. 96), wie die berühmte Formulierung lautet. Nur durch die Schaffung einer starken Zentralgewalt sind die Menschen im Zaume zu halten, so dass sie untereinander in Frieden leben können. Politische Herrschaft wird bei Hobbes also als Mittel gerechtfertigt, um den Naturzustand zu überwinden bzw. einen Rückfall in den Naturzustand zu vermeiden.

Nun gibt es eine Frage oder vielmehr einen Einwand, mit dem sich jede Gesellschaftsvertragstheorie, die sich auf einen fiktiven Naturzustand beruft, auseinandersetzen muss: Wieso sollte eine Gesellschaftsvertragstheorie als gültig anerkannt werden, wenn sich die Argumentation auf einen nur gedachten Zustand stützt? Könnte man an die Stelle der Hobbesschen Vorstellung vom Naturzustand nicht auch eine ganz andere setzen, mit entsprechend anderen Konsequenzen? Wenn nicht, welche Bedingungen muss der Hobbessche Naturzustand dann erfüllen, damit er als gültige Prämisse seiner Gesellschaftsvertragstheorie anerkannt werden kann?

Es mögen Fragen wie diese gewesen sein, die den Autor der oben zitierten Einführung in die Philosophie dazu motiviert haben, bei der Spieltheorie nach Anleihen für eine präzisere Darstellung des Hobbesschen Arguments zu suchen. Dabei ist es keineswegs notwendig, Hobbes' Argument in diesem Punkt zu präzisieren, denn die Bedingung, die Hobbes' Prämisse, dass der Naturzustand ein Krieg aller gegen alle ist, erfüllen muss um glaubwürdig zu sein, besteht nicht darin, dass sie einen wirklichen Naturzustand historisch genau beschreiben muss. Es genügt vollauf, wenn sie den Zustand einer Anarchie hinreichend wirklichkeitsnah beschreibt. Diese Bedingung wird von Hobbes' Beschreibung des Naturzustandes aber zweifellos erfüllt. Denn Anarchie ist in der Wirklichkeit fast immer mit einem Bürgerkrieg oder bürgerkriegsartigen Zustand verbunden, der dem Hobbesschen Naturzustand ziemlich nahe kommt, und in dem in der Tat das Leben für viele Menschen „ekelhaft, armselig und kurz“ ausfällt. (Die wenigen Gegenbeispiele betreffen durchweg Jäger und Sammler-Gesellschften und stellen heutzutage daher eine Ausnahme dar, die jedenfalls keine Option mehr ist.) Hobbes Prämisse ist also realistisch und wird von den historischen Erfahrungen bestätigt.

Folglich ist Hobbes Argument, was nicht verwundert, auch ohne die Unterstützung der Spieltheorie schon ziemlich überzeugend. Aber vielleicht kann eine moderne spieltheoretische Fassung das Argument trotzdem noch verbessern? Leider ist eher das Gegenteil der Fall, denn der Versuch, Hobbes' Argument spieltheoretisch zu fassen, begegnet folgenden Schwierigkeiten:

1) Es ist gar nicht zu entscheiden, ob man den Naturzustand als ein Gefangenendilemma oder eher als ein „Hirschjagd-Spiel“, ob als Zwei-Personen- oder N-Personen Spiel oder ein Gemisch underschiedlicher Spiele (dazu: (Binmore 1994, S. 117-125)) oder als etwas ganz Anderes (z.B. als Dialektik von Herr und Knecht im Sinne Hegels) beschreiben soll. Dann ist aber zweifelhaft, ob eine glaubwürdige spieltheoretische Fassung des Hobbesschen Arguments überhaupt möglich ist.

2) Betrachtet man den Hobbesschen Naturzustand aber dennoch spieltheoretisch, dann ist es höchst wahrscheinlich, dass die Ergebnisse, zu denen die spieltheoretische Analyse gelangt, falsch sind. Denn, wie unter anderem die Simulationen von Schüßler gezeigt haben, gibt es für das sogenannte „Hobbessche Problem“ innerhalb bestimmter Parameterbereiche eine Lösung, bei der sich Kooperation einstellt, auch ohne dass sie erzwungen wird. Wie auch immer man diesen Befund beurteilen mag: In der Situation, die Thomas Hobbes beschrieben hat, d.h. beim Nicht-Vorhandensein politischer Herrschaft, existiert diese Lösung sicherlich nicht. Es gibt - abgesehen von bestimtmen Jäger und Sammler-Gesellschaften wie z.B. dem Pygmäenstamm der Bambuti im Zentral-Kongo (Appiah 2003, S. 221-223) - keine Beispiele für eine Anarchie, die funktioniert. Eine spieltheoretische Betrachtung des Hobbesschen Naturzustandes kann uns also höchstens auf eine falsche Fährte locken.

3) Führt die spieltheoretische Neufassung von Hobbes' Argument daher schlimmstensfalls zu einer Verzerrung der Fragestellung und unter Umständen sogar zu falschen Ergebnissen, so erzielt sie bestenfalls doch nur die Ersetzung der Hobbesschen Terminologie durch einen neuen Fachjargon. Denn der theoretische Gehalt der Aussage wird ja keineswegs erhöht, wenn wir statt wie Hobbes davon zu sprechen, dass eine Herrschaft „dauerhaft“ sei, nun sagen, sie wäre „evolutionär stabil“. Eher verringert der unnötige Gebrauch von Fachjargon die sprachliche Klarheit der Darstellung.

4) Was nun das „Hobbessche Problem“ (das seinen Namen einer überaus unglücklich gewählten Terminologie verdankt, denn Hobbes selbst ging es um das Problem, wie Menschen in Frieden zusammen leben können, nicht darum, ob Egoisten kooperationsfähig sind, und Hobbes hielt die Menschen auch nicht für rationale Eogisten, sondern fand sie tief geprägt durch Leidenschaften wie Misstrauen und Ruhmsucht (Hobbes 1651, 13. Kapitel).) angeht, so ist festzuhalten, dass die theoretische Antwort, die mit Hilfe spieltheoretischer Simulationen wie der von Schüßler darauf gegeben werden kann, kaum einen Erkenntnisgewinn gegenüber den Antworten darstellt, wie sie Denker wie Adam Smith schon über zwei Jahrhunderte früher mit einleuchtenden Metaphern („invisible hand“) und einfachen aus dem täglichen Leben gegriffenen Beispielen geben konnten.

Es zeigt sich also: Der Versuch Hobbes' Argumentation durch eine spieltheoretische Deutung des Naturzustandes formalwissenschaftlich zu präzisieren, verbessert nicht die Argumentation, sondern führt - ganz im Gegenteil - zur Verzerrung und Verwässerung der Argumentation.

Es lohnt sich, den letzten Punkt ein wenig näher zu betrachten, da daran deutlich wird, wie verfehlt es ist, die Verwendung mathematischer Methoden und den Einsatz moderner Computertechnologie mit Wissenschaftlichkeit gleichzusetzen, ein Irrgalube, dem die Theorie der „Evolution der Kooperation“ zu einem nicht geringen Teil ihre nachhaltige Popularität verdankt. Die These, dass Egoisten unter bestimmten Bedingungen kooperieren können, auch ohne dass sie unmittelbar dazu gezwungen werden, ist keineswegs neu. Sie wurde beispielsweise schon im 18. Jahrhundert von den englischen Nationalökonomen mit großer Überzeugungskraft vertreten. Ihre Glaubwürdigkeit lässt sich leicht mit Hilfe einfacher Beispiele darlegen. So fragt Adam Smith etwa, was den Bäcker dazu bewegt, jeden Morgen so früh aufzustehen, nur um uns pünktlich unser Brot zu liefern. Und seine Antwort lautet, dass es nicht die Tugend der Nächstenliebe sondern bloß Eigenliebe ist, da der Bäcker ja schließlich davon lebt, dass er Brot verkauft. Mit diesem Beispiel hat Adam Smith bereits sehr plausibel demonstriert, dass Kooperation auch unter Egoisten möglich ist. Nun stellen sich unmittelbar zwei Fragen: Erstens, ob Smiths Beispiel als wissenschaftliches Argument überhaupt tauglich ist, und zweitens, inwiefern die Begründungsqualität von Axelrod, Schüßlers oder Skyrms Modellen über Smiths Beispiel hinausgeht.[13] Zur ersten Frage ist zu sagen, dass die Begründetheit von Smiths Beispiel allein auf der glaubwürdigen Vorstellbarkeit beruht. Beispiele, Metaphern und Gedankenexperimente tragen ihre Begründung immer in sich (oder auch nicht, wenn es schlechte Beispiele sind). Sicherlich ist ein gedachtes Beispiel kein besonders starker wissenschaftlicher Beweis, aber bevor wir dem „Gleichnis vom egoistischen Bäcker“ Unwissenschaftlichkeit vorwerfen, sollten wir uns fragen, ob die Computersimulationen Axelrods oder Schüßlers nicht ebenso große Zumutungen an unsere Vorstellungskraft enthalten. Immerhin sollen wir uns ja vorstellen, dass die abstrakten Agenten in der spieltheoretischen Computersimulation das Verhalten wirklicher Menschen wiederspiegeln. Sicherlich haben Computersimulationen und spieltheoretische Modelle, dadurch dass sie formal bzw. rechnerisch ausgeführt sind, den Vorteil, dass sie uns (wie Schüßler es nennt) die „logische Möglichkeit“ des Behaupteten beweisen. Nur ist dieser Punkt oft trivial: Wir werden Adam Smith kaum vorwerfen wollen, dass er es unterlassen hat, die logische Möglichkeit seines „eogistischen Bäckers“ formal abzuleiten. Und in dem anderen, viel wichtigeren Punkt, ob wir uns vorstellen können, dass das Beispiel der Wirklichkeit entspricht, ist Adam Smiths Bäcker klar im Vorteil. Die Grundfrage, ob Egoisten kooperieren können, kann also auch durch umfangreiche numerische Berechnungen nicht wissenschaftlich präziser beantwortet werden, als durch ein einfaches, aus dem täglichen Leben gegriffenes Beispiel. Natürlich muss dazu gesagt werden, dass Axelrod, Schüssler und Skyrms weitergehende Ziele verfolgen, als nur in ihrer allgemeinsten Form diese Grundfrage zu klären. Sie möchten ja nicht nur zeigen, dass Kooperation unter Egoisten möglich ist, sondern sie unternehmen auch einen (angesichts der, wie zuvor an zwei Beispielen demonstriert wurde, geringen empirischen Anwendbarkeit aber ziemlich missglückten) Versuch, die Bedingungen heraus zu arbeiten, unter denen Kooperation möglich ist. Ihre Modelle sind also nicht schon deshalb überflüssig werden, weil man diese Frage einfacher beantworten kann. Aber es bleibt festzuhalten, dass hinsichtlich der philosophischen Grundfrage, ob Egoisten kooperieren können, der Rückgriff auf ihre Modelle keinerlei Vorteile bietet. Schließlich könnte man noch einwenden, dass Adam Smiths Beispiel sich innerhalb einer durch staatliche Gewalt gesicherten Ordnung bewegt, im bereits geregelten „Spiel der Gesellschaft“ also, und nicht im „Spiel des Lebens“ (Binmore) wie der Hobbessche Naturzustand. Aber gerade auf den Hobbesschen Naturzustand lassen sich, wie sogleich noch näher ausgeführt werden wird, auch die Ergebnisse von Axelrod, Schüßler oder Skyrms nicht übertragen, da der Hobbessche Naturzustand - wie die historische Erfahrung mit Anarchien zeigt - gerade keine „Evolution von Kooperation“ zulässt.

Die normative Gesellschftsvertragstheorie kann also kaum vom Rückgriff auf die Spieltheorie profitieren. Allerdings scheint die Untersuchung normativer Fragen auch nicht die Hauptabsicht der Spieltheoretiker zu sein, die sich mit der Gesellschaftvertragstheorie auseinandersetzen. Vorzugsweise stützten sie sich auf die empirische Gesellschaftsvertragstheorie (Skyrms 1999, Binmore 1994). Oft liegt dieser Vorliebe eine gewisse Skepsis gegen die normative Gesellschaftsvertragstheorie zu Grunde, die, gewissermaßen im luftleeren Raum, Naturzustände konstruiert und daraus mögliche Gesellschaftsverträge ableitet. Anstatt sich in solchen Spekulationen zu ergehen, wäre es sinvoller zu untersuchen, wie die bestehenden Gesellschaftsverträge (oder konkreter: Staatsverfassungen) sich entwickelt haben, und zu welchen möglichen anderen Gesellschaftsverträgen von dort aus evolutionäre Pfade führen. Diese Haltung, die sehr die Grenzen des Möglichen und des Machbaren betont, und die normative Spielräume nur innerhalb dieser Grenzen zugestehen will, wird von Ken Binmore nicht ohne einen Anflug von Selbstironie auch als „whiggerish“ bezeichnet (Binmore 1994, S. 1-7).

Die Spieltheorie, zumal die dynamische bzw. evolutionäre scheint, da sie das nüchterne Menschenbild der Ökonomie unterstellt, geradezu prädestiniert dazu, die Spielräume des Machbaren auszuloten. Wie geht die Spieltheorie dazu vor? Wie eingangs angedeutet, gibt es zwei Möglichkeiten: Einmal könnte man natürlich versuchen, spieltheoretische Modelle aufzustellen, die bestimmte „Gesellschaftsverträge“ repräsentieren, und dann die Dynamik dieser Modelle, ihre Gleichgewichte etc. bestimmen. (In etwa in dieser Weise geht Brian Skyrms vor.) Nur werden diese Modelle notgedrungen so abstrakt ausfallen, ihre Voraussetzungen zwangsläufig so stark vereinfacht werden müssen, dass sie es kaum erlauben, aus den Ergebnissen realistische Schlussfolgerungen zu ziehen. Natürlich könnte man, um den zu erwartenden kritischen Einwänden gleich den Wind aus den Segeln zu nehmen, die Schwäche der Modelle von vornherein eingestehen. Und in der Tat weist beispielsweise Ken Binmore unmittelbar zu Anfang seines Werkes über „Game Theory and the Social Contract“ darauf hin, dass seine Erörterungen sich so gut wie ausschließlich auf Zwei-Personen-Spiele beziehen und damit durchwegs auf Spielsituationen, die nur extrem vereinfachte Fälle beschreiben (Binmore 1994, S. vii). Ist dies erst einmal zugestanden, dann ergibt sich aber, dass den Erkenntnissen, die anhand von solchen einfachen Modellen entwickelt werden, bestenfalls die Evidenz von Analogieschlüsen zukommt. Und auch die spieltheoretischen Begriffe (wie „Nash-Gleichgewicht“ oder „evolutionäre Stabilität“) verlieren, angewandt auf die Gesellschaftsvertragstheorie, die exakte Bedeutung, die ihnen innerhalb der formalen Spieltheorie zukommt und verwandeln sich in bloße Metaphern. Damit ist nicht gesagt, dass sie als solche nicht eine Bereicherung der Gesellschaftsvertragstheorie darstellen könnten, die sich ja auch sonst kaum auf exakterem Niveau bewegt. Nur kann natürlich keine Rede mehr davon sein, dass die Spieltheorie etwa in der Lage wäre, die Gesellschftsvertragstheorien formalwissenschaftlich zu präzisieren. Unter diesen Umständen erweist sich der formalwissenschaftliche Hintergrund der Spieltheorie eher als nutzloser Ballast.

Dass die spieltheoretische Betrachtungsweise in der „empirischen“ Gesellschaftsvertragstheorie ebenso wie in der normativen die Gefahr birgt, die Fragestellung zu verfehlen, und die ganze Untersuchung auf eine falsche Fährte zu führen, kann sehr gut anhand von Brian Skyrms' „The Stag Hunt and the Evolution of Social Structure“ (Skyrms 2004) verdeutlicht werden. Im Resumée fasst der Autor die Erkenntnisse seines Werkes folgendermaßen zusammen:

How much progress have we made in addressing the fundamental question of the social contract: „How can you get from the noncooperative hare hunting equilibrium to the cooperative stag hunting equilibrium?“ The outlines of a general answer have begun to emerge. Over time there is some low level of experimentation with stag hunting. Eventually a small group of stag hunters comes to interact largely or exclusively with each other. ... The small group of stag hunters prospers and can spread by reproduction and imitation.

Abgesehen davon, dass dieses Ergebnis einigermaßen unspektakulär bleibt,[14] ist es dazu im Wesentlichen falsch. Auf die Grundfrage der empirischen Gesellschaftsvertragstheorie, wie und warum die Menschen vom unkooperativen Naturzustand in den kooperativen Gesellschaftszustand übergehen, gibt es eine sehr viel naheliegendere Antwort, die sofort einleuchtet, sobald sie nur ausgesprochen wird: Der Übergang zum Gesellschftszustand erfolgt durch Unterwerfung. Irgendwann einmal hat ein einzelner (oder eine Gruppe) soviel Macht angesammelt, dass er die anderen unterwerfen kann. Und dann wird er es wahrscheinlich tun, womit der Naturzustand beendet ist.

Es erscheint ein wenig verblüffend, dass die Phänomene der Herrschaft und Unterwerfung im Zusammenhang mit der Frage, wie gesellschaftliche Ordnung entsteht, so leicht vergessen werden können. Aber dies verdeutlicht nur noch einmal mehr eines der Grundprobleme der spieltheoretischen Interpretation der Gesellschaftsvertragstheorie (in dem sich eines der Grundprobleme der gewaltsamen Formalisierung wissenschaftlicher Disziplinen widerspiegelt, die sich ihrer Natur nach einer solchen Formalisierung sträuben): Indem die herangezogenen spieltheoretischen Modelle entsprechend ihrer ökonomischen Herkunft das Verhalten autonomer Individuen beschreiben, gerät die nur zu natürliche Rolle, die Herrschaft und Unterwerfung für die gesellschaftliche Ordnung spielen, aus dem Blick. Freilich lassen sich die Modelle abändern und in diesem Punkt ausbessern. Aber auch dann besteht noch die Gefahr, dass - wie schon bei der normativen Gesellschftsvertragstheorie - die Fragestellung verzerrt wird und die wesentlichen Probleme aus dem Blick verloren werden, weil die Antwortmöglichkeiten den Restriktionen der spieltheoretischen Modellbildung unterworfen werden.

Wie sehr das Paradigma der evolutionären Spieltheorie zu einer Blickverengung bei der Gesellschaftsvertragstheorie geführt hat, zeigt die wissenschaftliche Diskussion von Skyrms „Games Theory and the Social Contract“ (Skyrms 1999). So arbeitet Zachary Ernst in einem an Skyrms anknüpfenden Artikel (Ernst 2001, S. 6ff.) sehr treffend den Mangel an empirischen Gehalt und die geringe Robustheit von Skyrms Modellen heraus und fordert, dass man sich stärker an der anthropologischen Forschung von Jäger- und Sammlerkulturen orientieren sollte. In ähnlicher Weise stellt Philip Kitcher in einer (trotz aller Höflichkeiten) sehr kritischen Rezension desselben Werkes von Skyrms als einen Hauptmangel fest, dass Skyrms die Tatsache der Ungleichheit ignoriert (Kitcher 1999, S. 223.).[15] . Daran anschließend skizziert Kitcher in Ansätzen ein Modell, dass die Verhältnisse bei Primaten abbilden soll, die in Gruppen zusammen leben, die durch eine klare Dominazhierarchie gekennzeichnet sind. Obwohl Zachary Ernst und Philipp Kitcher eine Hauptschwäche von Skyrms Darstellung richtig identifizieren, verfehlen beide noch das für gesellschaftliche Ordnung doch zentrale Phänomen der Herrschaft. Herrschaft lässt sich nicht auf Dominanz, wie man sie bei Tieren findet, zurückführen, denn Herrschaft beruht darauf, dass ein Herrscher einem Untergebenen befehlen kann, etwas zu tun, was kognitive Leistungen voraussetzt, zu denen Tiere nicht in der Lage sind. Insofern erscheint es sehr fraglich, ob primatologische Spekulationen zur Erklärung des Entstehens politischer Ordnung Wesentliches beitragen können. Daher greift auch die Kritik von Ernst und Kitcher an der Wirklichkeitsferne von Skyrms spieltheoretischen Modellen noch viel zu kurz. Dabei kannten Sie noch nicht einmal Skyrms wenig später erschiene Neuauflage seines Ansatzes (Skyrms 2004), die dieselben grundlegenden Erklärungsschwächen mit anderen Modellen eins zu eins wiederholt.

Trotz aller Kritik ist jedoch einzuräumen, dass die spieltheoretische Betrachtungsweise, wenn man ihren wissenschaftlichen Erklärungsanspruch nicht überstrapaziert, der Diskussion der Gesellschaftsvertragstheorie durchaus Impulse geben kann. Allerdings besteht der Beitrag eher darin, das Paradigma der Gesellschaftsvertragstheorie durch allgemeine Ideen und Vorstellungen aus der Spieltheorie zu bereichern. Der Versuch dagegen, mit Hilfe formaler spieltheoretischer Modelle oder Computersimulationen Gesellschaftsvertragstheorie zu betreiben, mutet eher etwas grotesk an. Gerade so, als wenn jemand Eröffnungen und Taktiken beim Schachspiel erörtert und beansprucht, auf diese Weise wichtige neue Erkenntnisse zur Staatsführung und Militärstrategie zu Tage zu fördern.

Zusammenfassend kann man festhalten, dass der Nutzen einer spieltheoretische Betrachtung gesellschaftsvertragtheoretischer Fragestellungen aus folgenden Gründen stark beschränkt bleibt:

  1. Die Spieltheorie liefert keinen privilegierten Zugang zur Gesellschaftsvertragstheorie. Eine formale, spieltheoretische Fassung einer Gesellschaftsvertragstheorie, die die klassische Gesellschaftsvertragstheorie wissenschaftlich aufbessern oder sogar ablösen könnte, gibt es nicht.
     
  2. Die zunehmende Verfeinerung der mathematischen Spieltheorie, schlägt sich nicht in einer erhöhten Relevanz für die Gesellschaftsvertragstheorie nieder. Sind die grundlegenden Spiele (z.B. Gefangenendilemma, Hirschjagd-Spiel, chicken game, battle of sexes etc.) zur prägnanten Beschreibung unterschiedlicher strategischer Situationen noch von großem Wert, so bleiben die subtilen Unterschiede zwischen kollektiver, evolutionärer und stochastischer Stabilität bei der metaphorischen Verwendung dieser Begriffe notwendigerweise auf der Strecke. (Und anders als bloß metaphorisch lassen sich spieltheoretische Begriffe bei der Anwendung auf Probleme von der Art, wie sie die Gesellschaftsvertragstheorie aufwirft, nun einmal nicht verwenden.)
     
  3. Der Aufwand spieltheoretischer Modellforschung steht, wenn es um Grundfragen der politischen Ordnung geht, wie sie von den klassischen Gesellschaftsvertragstheorien behandelt werden, in der Regel in keinem Verhältnis zum erreichbaren Nutzen.

Insgesamt kann man festhalten: Wer eine Antwort auf die von Skyrms aufgeworfene Frage sucht, wie eine Gesellschaft vom unkooperativen Naturzustand („hare hunting equilibrium“) zum kooperativen Gesellschaftszustnd („stag hunting equilibrium“) übergehen kann, der sollte bei den Klassikern, bei Thomas Hobbes, John Locke oder in den Federalist Artikeln nachschlagen. Dort wird er eine Fülle wohldurchdachter Antworten finden, die ihm die evolutionäre Spielheorie sämtlich vorenthält.

[13] Besonders die letzte Frage ist entscheidend, denn sonst könnte man den hier gegen die Theorie der „Evolution der Kooperation“ erhobenen Vorwurf gegen jede Moderne wissenschaftliche Theorie richten und beispielsweise behaupten, die moderne Kernphysik sei doch auch nichts anderes als die Atomlehre Demokrits.

[14] Ganz ohne Spieltheorie hat z.B. bereits Immanuel Kant ähnliche Prozesse für die Aufklärung, den „Ausgang aus der selbstverschuldeten Unmündigkeit“, einer Gesellschaft durch sich selbst, sowie für die Etablierung eines internationalen Friedensregimes skizziert (Kant 1795, S. 356). Man könnte geneigt sein, zugunsten von Skyrms einzuwenden, dass erst durch ein entsprechendes formales bzw. numerisches Modell, wie er es in seinem Buch beschreibt, die Möglichkeit eines solchen Prozesses über die bloße Plausibilität einer verbalen Beschreibung hinaus bewiesen werden kann. Aber Skyrms formales Modell ist im Gegensatz zu Kants zwar hypothetischen, ihrer Art nach aber aus dem Leben gegriffenen Beschreibungen sehr viel wirklichkeitsfremder. Was bei Skyrms also an Genauigkeit gewonnen wird, geht zugleich durch die abstraktionsbedingte Wirklichkeitsferne wieder verloren.

[15] In der „empirischen“ Gesellschaftsvertragstheorie ist dies in der Tat ein schweres Versäumnis, auch wenn es in der normativen Gesellschaftsvertragstheorie aus Gründen der Vereinfachung durchaus Sinn hat, so wie schon Hobbes es getan hat, die Gleichheit der Menschen anzunehmen.

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