Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
    4.1 Wahrscheinlichkeiten I: Rechentechniken
        4.1.1 Einführung
        4.1.2 Grundlegende Gesetze der Wahrscheinlichkeitsrechnung
        4.1.3 Der Bayes'sche Lehrsatz
            4.1.3.1 Ein „Anwendungsbeispiel“: Bayes in der medizinischen Diagnostik
            4.1.3.2 Ein weiteres Anwendungsbeispiel: Wieviel Geld sind Informationen wert?
        4.1.4 Aufgaben
    4.2 Wahrscheinlichkeiten II: Interpretationsfragen nicht klausurrelevant!)
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

4.1.3.1 Ein „Anwendungsbeispiel“: Bayes in der medizinischen Diagnostik

Mit diesem Wissen können wir nun auch die Aufgabe zu Beginn der Vorlesung lösen:

Ca. 3% aller 70-jährigen haben Alzheimer. Auch wenn Alzheimer bisher nicht geheilt werden kann, ist die Früherkennung eine wichtige Voraussetzung für vorbeugende, den Krankheitsverlauf evtl. mildernde Maßnahmen. Leider lässt sich Alzheimer nur schwer präzise diagnostizieren. (Erst durch Gewebeuntersuchungen am verstorbenen Patienten lässt sich mit Sicherheit feststellen, ob eine Alzheimererkrankung vorlag.) Angenommen einmal, die Forschung hätte einen Gedächtnistest entwickelt, durch den eine vorliegende Alzheimererkrankung mit 95%-iger Sicherheit diagnostizierbar ist, an dem im Durchschnitt aber auch 2% der älteren Menschen scheitern, selbst wenn sie nicht an Alzheimer erkrankt sind.[54]

Angenommen, Sie sind Ärztin oder Arzt und untersuchen einen 70-jährigen Patienten mit Hilfe des Gedächnistests. Es zeigt sich, dass der Patient nicht mehr in der Lage ist, die Aufgaben des Tests zu lösen. Wie groß ist die Wahrscheinlichkeit, dass der Patient an Alzheimer erkrankt ist?

Bei diesem Beispiel, gilt offenbar:

  1. Basisrate (Anteil der Alzheimerkranken unter den 70-jährigen)
     
  2. positiv-positiv Rate (eine vorliegende Alzheimererkrankung ist mit Hilfe des Tests mit 95%-iger Sicherheit diagnostizierbar)
     
  3. positiv-negativ Rate (in 2% der Fälle löst der Test „Fehlalarm“ aus)

In die Bayes'sche Formel eingesetzt ergibt dies:



Mit 59%-iger Wahrscheinlichkeit ist der Patient also an Alzheimer erkrankt. Wie kann das sein, mag man sich fragen, dass der Wert nur 59% beträgt, wenn ein Test, der die Krankheit doch zu 95% diagnostiziert, positiv ausgefallen ist. Der Grund ist, dass die Krankheit unter den 70-jährigen überhaupt nur selten vorkommt und dass damit die Basisrate recht niedrig ist.

Wie nützlich der Bayes'sche Lehrsatz ist, tritt so recht dann zu Tage, wenn man ihn mehrfach hintereinander anwendet. Stellen Sie sich unsere Geschichte folgendermaßen fortgesetzt vor:

Als Arzt oder Ärztin sind Sie nicht damit zufrieden, dass Sie die Alzheimererkrankung des Patienten bisher nur mit 59%-iger Wahrscheinlichkeit diagnostizieren konnten. Also wenden Sie noch einen zweiten Test - diesmal einen Test mit Rechenaufgaben an - um ihre Diagnose ggf. zu erhärten. Der zweite Test ist etwas weniger zuverlässig als der erste, indem eine vorliegende Krankheit nur in 90% aller Fäller richtig erkannt wird, aber auch in 10% der Fälle Fehlalarm gegeben wird, obwohl gar keine Erkrankung vorliegt.

Angenommen, Ihr Patient scheitert ebenfalls an den Rechenaufgaben dieses zweiten Tests. Mit welcher Wahrscheinlichkeit müssen Sie nun davon ausgehen, dass er tatsächlich an Alzheimer erkrankt ist?

Um die Aufgabe zu lösen, wendet man wiederum den Bayes'schen Lehrsatz an, nur dass man diesmal als Basisrate dass Ergebnis des ersten Tests einsetzt. Wir wissen ja schon mit 59%-iger Wahrscheinlichkeit, dass der Patient erkrankt ist. Die Rechnung liefert dann ein Ergebnis von:





Durch die kombinierte Anwendung beider Tests ist die Erkrankung nun also mit ca. 93%-iger Sicherheit festgestellt. Eine wichtige Voraussetzung für die verkettete Anwendung des Bayes'schen Lehrsatzes besteht darin, dass die einzelnen Testverfahren statistisch voneinander unabhängig sind, d.h. wenn die Testperson krank ist, darf die Wahrscheinlichkeit, dass der der zweite Test die Krankheit korrekt diagnostiziert (positiv-positiv Rate) nicht davon abhängen, ob auch der erste Test unter dieser Bedingung die Krankheit richtig diagnostiziert hat. Dasselbe gilt selbstverständlich auch für die positiv-negativ Rate. Wäre der zweite Test in unserem Beispiel wiederum ein Gedächnistest gewesen, so hätte man Anlass zu der Annahme, dass die beiden Tests nicht statistisch unabhängig voneinander sind. (Für den Rechentest wollen wir einmal gutgläubig vermuten, dass er statistisch unabhängig vom Gedächnistest ist.)

[54] Die Zahlen sind für den Zweck der Übungsaufgabe willkürlich gewählt und auch die Testverfahren stellen nur natürlich nur ein erfundenes Beispiel dar. Für realistische Zahlen aus der aktuellen Forschung, siehe brain.oxfordjournals.org/cgi/reprint/131/3/681 (Kloeppel 2008). Ich bin Matthias Brinkmann für den Hinweis auf diesen Artikel sehr dankbar!

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