Vorlesungsskript: Grundlagen des Entscheidens I

Eckhart Arnold

1 Vorwort
2 Techniken des Entscheidens
    2.1 Entscheidungstabellen und -bäume
    2.2 Entscheidungen unter Unwissenheit I
    2.3 Entscheidungen unter Unwissenheit II
        2.3.1 Die Minimax-Bedauerns-Regel
        2.3.2 Kardinaler Nutzen
            2.3.2.1 Exkurs: Skalentypen
        2.3.3 Weitere Entscheidungsregeln auf Basis des kardinalen Nutzens
        2.3.4 Aufgaben
    2.4 Entscheidungen unter Risiko
3 Zur Theorie der Kollektiven Entscheidungen
4 Wahrscheinlichkeitsrechnung
5 Neumann-Morgensternsche Nutzentheorie
6 Spieltheorie
7 Kritische Reflexion
8 Beispielklausur
Literaturverzeichnis

2.3.2 Kardinaler Nutzen

Der Grundgedanke der „Minimax-Bedauerns-Regel“ besteht darin, eine Entscheidung zu finden, bei der der maximal mögliche Verlust (je nach eintretenden Zufallsereignissen) minimiert wird. Da wir diese Regel auf ein Beispiel mit Geldwerten angewendet haben, konnten wir die Verluste relativ bedenkenlos als die Differenz zwischen entgangenem Gewinn und erhaltenem Gewinn bestimmen. Aber wie sollen wir eine solche Regel wie die „Minimax-Bedauerns-Regel“ anwenden, wenn die (möglichen) Ergebnisse eines Entscheidungsproblems keine Geldwerte sind? Die Ihnen zugeordneten Nutzenwerte spiegeln dann - nach dem Konzept des ordinalen Nutzens - nur eine Rangordnung zwischen den möglichen Ergebnissen des Entscheidungsprozesses entsprechend den Präferenzen wieder. Das Ergebnis der Anwendung einer Entscheidungsregel sollte also auch nur von der Rangordnung der Nutzenwerte nicht aber von den - solange die Ordnung erhalten bleibt - willkürlich wählbaren Zahlenwerten abhängen, die diese Ordnung auf einer Nutzenskala wiedergeben. Betrachten wir als Beispiel einmal folgende beiden Nutzenskalen, die den Ergebnissen jeweils einen bestimmten Nutzen zuordnen. (x, y und z sollen dabei irgendwelche möglichen Resultate irgendeines Entscheidungsprozesses sein, z.B. könnten sie für die Resultate frustriert, gelangweilt, erfreut aus dem Beispiel auf Seite 2.1.3.1 stehen.)

x y z x y z
Nutzenskala u()1 2 3 Nutzenskala v()1 4 9

Beide Skalen geben offenbar denselben ordinalen Nutzen wieder, da und ebenso . Betrachtet man allerdings die Differenzen, so fällt auf, dass , während . Würden diese Nutzenwerte bei einem Entscheidungsproblem auftauchen, so könnte es geschehen, dass man bei Anwendung der Minimax-Bedauernsregel je nachdem, ob man die Nutzenfunktion u oder die Nutzenfunktion v zur Darstellung der Präferenzen heranzieht, zu einer anderen Entscheidungsempfehlung kommt. Genau das dürfte aber nicht geschehen, da u und v nur unterschiedliche Darstellungen desselben ordinalen Nutzens sind. Welche Auswege könnte man sich aus dieser misslichen Situation denken:

  1. Angesichts des Beispiels (Seite 2.3.1), mit dem wir die Minimax-Bedauernsregel eingeführt haben, könnte man auf die naheliegende Idee verfallen, dass man diese Regel nur in solchen Fällen anwenden kann, in denen die Ergebnisse des Entscheidungsprozesses monetäre Auszahlungen sind. Das hätte allerdings zwei Nachteile: 1) Die Anwendbarkeit der Regel würde dabei auf eine vergleichsweise kleine Menge von Entscheidungsproblemen eingeschränkt. 2) In vielen Situationen, in denen in irgendeiner Form monetäre Auszahlungen vorkommen, geben die monetären Auszahlungen nicht unmittelbar den damit assoziierten Nutzen wieder. Hanldungsleitend und damit entscheidungsrelevant ist jedoch der Nutzen und nicht der Geldwert. Ein Beispiel daür, dass Nutzen und Geldwert sich nicht decken müssen ist das folgende: 2.000 Euro sind doppelt so viel Geld wie 1.000 Euro. Aber der zusätzliche Nutzen, den man von 2.000 Euro Monatsgehalt gegenüber 1.000 Euro Monatsgehalt gewinnt, ist sicherlich geringer als der zusätzliche Nutzen von 1.000 Euro gegenüber 0 Euro Gehalt.
     
  2. Eine andere denkbare Alternative wäre die Aufstellung einer qualitativen Bedauernstabelle. Dazu müsste man zunächst einmal die Differenzergebnisse bestimmen, worunter man zusammengesetzte Ergebnisse aus einem nicht eingetretenen und einem statt dessen eingetretenen Ergebnis verstehen kann. (In dem Beispiel des Küstenbesuchers aus der ersten Vorlesung (Seite 2.1.3.1), in dem die möglichen Resultate frustriert, gelangweilt, erfreut waren, würden sich daraus die Differenzereignisse frustriert statt bloß gelangweilt, gelangweilt statt erfreut und frustriert statt erfreut ergeben.) Weiterhin müsste man ein neutrales Differenzereignis definieren, welches die Stelle der 0 in der aus Nutzenwerten gewonnen Bedauernstabelle einnimmt. Dieses neutrale Differenzergebnis könnte man z.B. als „Unter gegebenen Umständen so gut wie möglich“ bezeichnen oder ähnlich. Schließlich müsste man die Präferenzen bezüglich der Differenzergebnisse bestimmten, denen man dann eine neue ordinale Nutzenfunktion zuweisen könnte. Die Bestimmung des minimalen größten Bedauerns erfolgt wie zuvor beschrieben (Siehe Abschnitt 2.3.1). Der Nachteil dieses Vorgehens besteht erstens darin, dass die Präferenzordnung für eine weitere Ergebnismenge, nämlich die Menge der Differenzergebnisse, bestimmt werden muss, und zweitens darin, dass sich dieses Verfahren tatsächlich nur auf die Minimax-Bedauerns-Regel anwenden lässt, nicht mehr aber auf die meisten weiteren Entscheidungsregeln, die wir gleich noch kennen lernen werden. In den Fällen aber, in denen wir nicht die gleich zu besprechende Neuman-Morgensternsche Nutzenfunktion bilden können (d.h. in den Fällen, in denen wir aus empirisch-sachlichen Gründen höchstens einen ordinalen Nutzen voraussetzen dürfen) bleibt die Bildung einer qualitativen Bedauernstabelle die einzige Alternative.
     
  3. Schließlich kann man versuchen, ein „stärkeres“ Nutzenkonzept als das des ordinalen Nutzens zu Grunde zu legen. Bei einem solchen Nutzenkonzept müsste nicht nur die Ordnung der Nutzenwerte unter einer Transformation erhalten bleiben sondern mindestens auch die Ordnung beliebiger Differenzen von Nutzenwerten. Stärker ist ein solches Nutzenkonzept in dem Sinne, dass die Nutzenwerte dann mehr Informationen enthalten als nur die Information über die Ordnung der Präferenzen. Das bedeutet aber auch, dass ein solches Nutzenkonzept empirisch schwerer zu rechtfertigen ist, und dass der empirische Anwendungsbereich eines solches Nutzenkonzepts kleiner sein wird als der des ordinalen Nutzens. Um die Ordnung der Differenzen zu erhalten, ist es aber andererseits noch längst nicht erforderlich, den konkreten Zahlenwerten der Nutzenfunktion eine eindeutige Interpretation zu geben, wie dies bei der Zuweisung von Geldwerten der Fall wäre. Gesucht ist also ein möglichst schwaches (und damit empirisch immer noch möglichst breit anwendbares) Nutzenkonzept, das aber stärker ist als das des Ordinalen Nutzens. Ein solches Nutzenkonzept ist das des kardinalen bzw. des Neumann-Morgensternschen Nutzens.

Das, was wir eben eher intuitiv die „Stärke“ eines Nutzenkonzepts genannt haben, ist dadurch bestimmt, unter welcher Art von Transformationen man zwei Nutzenfunktionen als äquivalent, d.h. denselben Nutzen ausdrückend, betrachtet. (Man kann es also nicht den Nutzenfunktionen also solchen ansehen, ob sie einen ordinalen oder kardinalen Nutzen ausdrücken. Sondern erst durch den Vergleich von Nutzenfunktionen und der Festlegung der Bedingungen ihrer Äquivalenz oder Nicht-Äquivalenz wird dies bestimmt.) Beim ordinalen Nutzen wurden alle Nutzenfunktionen als äquivalent betrachtet, die durch „ordnungserhaltende“ Transformationen ineinander überführt werden können. „Ordnungserhaltend“ sind alle streng monoton steigenden Abbildungen. Der kardinale Nutzen ist nun dadurch definiert, dass zwei Nutzenfunktionen als äquivalent betrachtet werden, wenn man sie durch positive lineare Transformationen ineinander überführen kann. Positive lineare Transformationen sind alle Transformationen der Form:


Man betrachte unter diesem Gesichtspunkt einmal die folgenden, in Tabellen dargestellten Nutzenfunktionen:

x y z x y z x y z
u()1 2 3 v()1 4 9 w()1 3 5

Alle drei Nutzenfunktionen geben denselben ordinalen Nutzen wieder, aber nur die Funktionen u und w geben denselben kardinalen Nutzen wieder, da . Weiterhin kann man sich leicht überlegen, dass zwei Nutzenfunktionen, die denselben kardinalen Nutzen darstellen, immer auch denselben ordinalen Nutzen repräsentieren, denn positive lineare Transformationen sind immer auch ordnungserhaltende Transformationen. Umgekehrt gilt dasselbe aber nicht, wie die Tabelle oben zeigt. Kardinale Nutzenskalen sind „feinkörniger“ als ordinale Nutzenskalen. Und sie erhalten, wie erwünscht nicht nur die Ordnung der Nutzenwerte sondern auch die Ordnung der Differenzen von Nutzenwerten, denn seien beliebige Nutzenwerte und sei mit eine positive lineare Transformation, dann:


Dasselbe gilt, wenn man statt des Ungleichheitszeichens ein Gleichheitszeichen einsetzt, womit der Erhalt der Ordnung von Nutzendifferenzen unter positiv linearer Transformation bewiesen ist. Positive lineare Transformationen haben darüber hinaus die Eigenschaft, dass sie nicht bloß die Ordnung der Differenzen von Nutzenwerten erhalten, sondern auch die Quotienten der Differenzen:



Diese Eigenschaft wird später noch für uns wichtig werden wird. Erfüllt eine Skala, wie in diesem Fall die kardinale Nutzenskala, diese Eigenschaft, so nennt man sie auch eine Intervallskala. Zur besseren Übersicht sollen im folgenden kurz einige der wichtigsten Skalentypen aufgelistet werden, die in der Wissenschaft von Bedeutung sind.

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