Religiöses Bewusstsein und Politische Ordnung. Eine Kritik von Eric Voegelins Bewusstseinsphilosophie

Eckhart Arnold

1 Vorwort zur Buchausgabe
2 Einleitung
3 Die Grundzüge von Voegelins Philosophie
4 Voegelins Bewusstseinsphilosophie („Anamnesis“ - Teil I)
5 „Was ist politische Realität?“ (Anamnesis - Teil III)
6 Ergebnis: Das Scheitern von Voegelins Bewusstseinsphilosophie
7 Die Schlüsselfrage: Braucht Politik spirituelle Grundlagen?
    7.1 Spirituelle Wahrheit und politische Ordnung bei Voegelin
    7.2 Gibt es spirituelle Sachzwänge?
    7.3 Bedarf die Legitimation der politischen Ordnung einer religiösen Komponente?
    7.4 Wertbegründung und -konsens in der pluralistischen Gesellschaft
    7.5 Sinngebung durch die politische Ordnung?
8 Was bleibt von Eric Voegelin?
9 Literatur

7.2 Gibt es spirituelle Sachzwänge?

Dasjenige, was Voegelins Philosophie der politischen Ordnung so hoffnungslos anachronistisch erscheinen lässt, ist die Tatsache, dass er spezifische religiöse Glaubensüberzeugungen als objektiv wahr voraussetzt. Voegelin hält es für eine unbestreitbare Tatsache, dass es einen transzendenten Seinsgrund gibt und dass wir zu diesem transzendenten Seinsgrund in einer Beziehung stehen, die er mit Ausdrücken wie „Spannung zum Grund“ beschreibt. Dass Voegelin seine religiösen Vorstellungen stets nur mit vagen und undeutlichen Worten umschreibt, darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass er ihre Wahrheit streng dogmatisch voraussetzt. Zudem bildet der Vorwurf der Ignoranz und der Fehldeutung dieser religiösen Wahrheiten seine beinahe einzige Erklärung für jede Art politischer Unordnung. Es ist daher nicht verkehrt zu sagen, dass Voegelin diese religiösen Wahrheiten für eine Art von spirituellen Sachzwängen hält, die die Politik berücksichtigen muss, z.B. indem sie - wie schon zitiert - „sehr energisch mit Parteiverboten“[412] gegen Parteien „antichristlicher oder antiphilosophischer Art“[413] durchgreift.

Die Vorstellung, dass die Politik spirituelle Sachzwänge berücksichtigen muss, mag nun heutzutage in der westlichen Welt vollkommen anachronistisch erscheinen. Die Tatsache aber, dass diese Vorstellung in dem sicherlich größten Teil der Menschheitsgeschichte als selbstverständlich galt, wenn nicht gar eine bestimmende Rolle gespielt hat, und dass ein Politikwissenschaftler wie Voegelin sie in der Gegenwart artikulieren und ernst genommen werden konnte, lässt es nicht ungeraten erscheinen, sie einmal ganz naiv als Frage zu formulieren und zu untersuchen, ob es nicht vielleicht tatsächlich spirituelle Sachzwänge der ein oder anderen Art gibt. Hierbei sind drei Varianten der These zu unterscheiden:

1. Der ersten denkbaren Variante zufolge gibt es objektive spirituelle Sachzwänge, soll heißen: Wenn die Menschen das transzendente Sein nicht in der gebührenden Weise berücksichtigen, so zieht dies ernste Konsequenzen seitens des transzendenten Seins nach sich. Sintfluten, Schwefelregen und andere Unbill, mit der zornige Götter die zuchtlose Menschenbrut zu strafen pflegen, sind dann mindestens die Folge. Da die Härte solcher Strafen nicht immer nur die jeweiligen Missetäter, sondern unter Umständen die gesamte Gemeinschaft trifft, wäre es auch eine Aufgabe der Politik, durch Maßnahmen, die dem Erhalt der spirituellen Volksgesundheit dienen, die Bevölkerung zu schützen.

Es gibt allerdings mindestens zwei starke Gründe, die dagegen sprechen, dass diese Art von objektiven spirituellen Sachzwängen tatsächlich existiert: 1) Naturkatastrophen haben natürliche Ursachen, über die wir dank der Wissenschaft inzwischen ziemlich gut bescheid wissen. Würden Naturkatastrophen tatsächlich eine Folge der Vernachlässigung der Transzendenz sein, dann müsste man dagegen erwarten, dass ihr Eintreten eher moralischen als natürlichen Gesetzmäßigkeiten folgt. 2) Unabhängig davon, welche religiösen Überzeugungen man für die wahren hält, werden Ungläubige von großen Katastrophen nicht deutlich häufiger getroffen als Gläubige. Das bedeutet aber, dass man sich durch die richtige Religionspolitik gar nicht vor derartigen Katastrophen schützen kann. Objektive spirituelle Sachzwänge der oben angedeuteten Art, denen die Politik Rechnung tragen könnte oder müsste, scheint es also nicht zu geben.

2. Von dieser, zugegeben recht abergläubischen Vorstellung, existiert eine modernere, psychologisierte Variante. Dieser Variante zufolge zieht eine gestörte Beziehung zum transzendenten Seinsgrund keine Konsequenzen seitens des transzendenten Seinsgrundes nach sich, sondern der Mensch macht sich dadurch das Leben selbst unerträglich, weil er einer gesunden Beziehung zur Transzendenz zutiefst bedarf. Ebenso wie bei der ersten Variante der These wird vorausgesetzt, dass es eine objektive Wahrheit bezüglich der Transzendenz gibt. Nur bilden nicht Naturkatastrophen die Folge der Vernachlässigung oder Fehlinterpretation dieser Wahrheit, sondern sie führt in den seelischen Wahnsinn. Zur Unterscheidung von der ersten Variante der These der Existenz spiritueller Sachzwänge könnte man in diesem Fall von subjektiven spirituellen Sachzwängen sprechen. Sehr eindrucksvoll ist die Vorstellung, dass es subjektive spirituelle Sachzwänge gibt, von Dostojewski literarisch gestaltet worden, z.B. in dem Roman „Die Dämonen“, wo sie - ein Gegenentwurf zu Turgenjews „Väter und Söhne“ - als Abwärtsbewegung von der Generation der Väter zu der der Söhne in Erscheinung tritt: Stepan Trofimowitsch Werchowenski, der Repräsentant der Vätergeneration, ist ein im Grunde genommen noch sehr liebenswerter, aber natürlich naiver und vertrottelter liberaler Romantiker. Die fatalen Konsequenzen des Verlustes der religiösen Bindungen treten erst in seinem gefühlskalten und skrupellosen Sohn Pjotr Stepanowitsch Werchowenski hervor, der sich von dem „dämonischen“ Nikolai Stawrogin zum Mord inspiriren lässt.[414] Neben dem Verlust religiöser Bindungen hat Dostojewski auch ihrer Fehlbesetzung literarisch eindrucksvoll in der Figur des Großinquisitors Gestalt verliehen. Den absoluten Tiefpunkt religiöser Abirrung verkörperte für Dostojewski nämlich die katholische Kirche, deren Prinzip der Großinquisitor vertritt, während Dostojeweski die sozialrevolutionären Bewegungen seiner Zeit im Vergleich dazu als verzeihliche Kindereien und nachgerade eine Folge der Zerstörung der Glaubenssubstanz durch die katholische Kirche zu entschuldigen bereit war. Konsequenterweise ist in der Legende vom Großinquisitor[415] ein dritter Weg zwischen dem richtigen Glauben, d.i. der Wahrheit und der Freiheit Jesu, und dem falschen Glauben der Inquisitionsgerichte nicht vorgesehen. Die aufklärerische Vorstellung des autonomen, sich und sein Schicksal selbst bestimmenden Menschen war für Dostojewski ein Unding. Wie wirkungsmächtig diese von Dostojeweski literarisch gestaltete Vorstellung war, sieht man daran, dass sie bei Voegelin in sehr ähnlicher Form wieder auftritt. Nur dass bei Voegelin die Rollen leicht vertauscht sind, nimmt doch bei Voegelin gerade das katholische Christentum vor der Reformation (also ausgerechnet jener Epoche, die das Wüten des Großinquisitors Torquemada, dem Vorbild von Dostojewskis Großinquisitor, gesehen hatte) den Platz authentischer Glaubenserfahrung ein, den Dostojewski dem orthodoxen Christentum vorbehalten hatte.

Gegen diese schwächere, psychologisierte Variante der These von den „spirituellen Sachzwängen“ gibt es ebenfalls gravierende Einwände, auch wenn die Situation hier schon ein wenig komplizierter ist. Ähnlich wie im Fall der Naturkatastrophen stimmt es einfach nicht, dass seelische Gesundheit ein Privileg nur von solchen Leuten ist, die über die richtige religiöse „Erfahrungsbasis“ verfügen. Seelisches Wohlbefinden kann sich bei den Anhängern der allerverschiedensten religiösen Überzeugungen mit entsprechend unterschiedlichen „Bewusstseinserfahrungen“ einstellen. Es kommt bei der Religion nur darauf an, was für wen passt. Und das kann für jeden etwas anderes sein. Etwas komplizierter liegt der Fall bei der psychologisierten Variante aber insofern, als die Existenz irgendwelcher Kausalzusammenhänge zwischen der Religiosität und dem seelischen Wohlbefinden sowie zwischen der Religiosität und dem moralischen und unter Umständen auch dem politischen Wohlverhalten sehr wohl anzunehmen ist. Nur, dass das persönliche Wohlbefinden und das sittliche Wohlverhalten von dem religiösen Wahrheitsgrad der weltanschaulichen Einstellung abhängen sollen, ist eine These, die die Wissenschaft unmöglich bestätigen kann, da sich wissenschaftlich nicht über religiöse Wahrheiten urteilen lässt.

3. Die dritte Variante der These trägt diesem Einwand Rechnung. Sie setzt daher auch nicht mehr irgendwelche religiösen Überzeugungen als wahr voraus oder spricht - im Sinne Voegelins - ganz spezifischen religiösen Erfahrungen eine höhere Adäquatheit zu als anderen. Behauptet wird lediglich, dass es kausale Beziehungen zwischen der religiösen Einstellung und dem politischen Verhalten von Menschen geben kann, denen die Politik Rechnung tragen sollte. Genaugenommen handelt es sich dann aber nicht mehr um „spirituelle Sachzwänge“, sondern lediglich um anthropologische Sachzwänge. Die Politik muss die Tatsache der Religiosität als einer wesentlichen Eigenschaft des Menschen berücksichtigen, nicht zuletzt deshalb, weil religiöse Institutionen einen erheblichen politischen Einfluss ausüben können. Das ist aber etwas ganz anderes, als wenn die Politik unmittelbar religiöse Glaubenssätze zu berücksichtigen hätte.

Fasst man das Verhältnis von Religion und Politik ausschließlich im Sinne dieser dritten Variante auf, so hat das bedeutende Konsequenzen für den Umgang mit potentiell gefährlichen religiösen oder weltanschaulichen Gruppierungen. Die Auseinandersetzung mit solchen Gruppierungen braucht nun nicht mehr um religiöse Wahrheitsansprüche geführt zu werden. Sie kann wesentlich pragmatischer als eine Auseinandersetzung um deren äußeres Verhalten und säkulare Einstellung (d.h. ihre Einstellung gegenüber dem Rest der Gesellschaft und ihre Haltung zum gesellschaftlichen Zusammenleben, nicht aber ihre Einstellung zu religiösen und metaphysischen Fragen im engeren Sinne) ausgetragen werden. Dementsprechend braucht, wenn überhaupt, auch erst dann „sehr energisch mit Parteiverboten zugegriffen werden“,[416] wenn derartige Gruppierungen sich verfassungsfeindlich betätigen und nicht bereits dann, wenn sie weltanschaulich nicht konform gehen. Dieser subtile Unterschied markiert, beiläufig bemerkt, die Grenze zwischen dem, was man die „wehrhafte Demokratie“ nennt, und einem autoritären Staat.

Welcher Art die kausalen Beziehungen zwischen religiöser Einstellung und politischem Verhalten sind, darüber kann man im Einzelnen sehr unterschiedliche Theorien aufstellen. Einer besonders unter Anhängern Voegelins populären Ansicht zufolge führt der Verlust religiöser Bindungen dazu, dass eine Art religiöses Vakuum entsteht, das dann von politischen Ideologien aufgefüllt werden kann. In diesem Sinne ist z.B. Voegelins Rede von der „positivistischen Destruktivität“[417] zu verstehen, denn der Positivismus ist als solcher zwar keineswegs totalitär, bereitet aber nach Voegelins Verständnis den totalitären Ideologien geistig den Boden, indem er ein geistig-religiöses Vakuum hinterlässt, das derartige Ideologien dann widerstandslos besetzen können. Allerdings gibt es gute Gründe diese „Vakuumtheorie“ anzuzweifeln. Wäre sie wahr, dann hätten sich ja z.B. die religiös stark gebunden Bevölkerungskreise im 3. Reich in Deutschland durch eine auffällig große Resistenz gegenüber dem Nationalsozialismus auszeichnen müssen. Von Ausnahmen besonders in den katholischen Bevölkerungsteilen abgesehen, war das aber nicht unbedingt der Fall. Und was die „positivistische Destruktivität“ betrifft, so hätte man erwarten müssen, dass gerade die positivistischen Philosophenschulen wegen des von ihnen erzeugten geistig-religiösen Vakuums in besonderem Maße anfällig für totalitäre Ideologien gewesen sind. Ein flüchtiger Blick in die historisch-biographischen Materialien etwa zum Wiener Kreis[418] legt aber viel eher die Vermutung nahe, dass die philosophische Strömung des Neupositivismus - von den kommunistischen Sympathien einzelner positivistischer Philosophen wie z.B. Otto Neurath abgesehen - ganz im Gegenteil außergewöhnlich resistent gegen die totalitäre Versuchung geblieben ist. Im Ganzen dürften die kausalen Beziehungen zwischen dem religiösen Hintergrund und der politischen Haltung also sehr viel komplizierter sein als dies die „Vakuumtheorie“ nahelegt.

Zusammenfassend lässt sich festhalten: Spirituelle Sachzwänge im Sinne religiöser Wahrheiten oder Tatsachen, seien dies nun göttliche Strafen oder eine vermeintlich unleugbare „Spannung zum Grund“, die das politische Handeln berücksichtigen müsste, gibt es nicht. Was die Politik berücksichtigen muss ist allein das anthropologische Faktum, dass die meisten Menschen religiös sind. Je nachdem welche Vorstellung man von der Religiosität und insbesondere der Dominanz religiöser Motive für das menschliche Handeln hat, könnte damit aber immer noch die These vereinbar sein, dass die Politik es sich nicht erlauben kann, den religiösen Bereich unbesetzt zu lassen. Dass dem nicht so ist, dafür soll in den folgenden Abschnitten argumentiert werden.

[412] Voegelin, Zukunft der westlichen Welt, S. 33.

[413] Ebd.

[414] Vgl. Fjodor M. Dostojewski: Die Dämonen, 20.Aufl., München 1996.

[415] Vgl. Fjodor Dostojewskij: Die Brüder Karamasow, Frankfurt am Main 2006, S. 397-427.

[416] Voegelin, Die geistige und politische Zukunft der westlichen Welt, a.a.O., S. 33.

[417] Eric Voegelin: The New Science of Politics. An Introduction, Chicago & London 1987 (zuerst: 1952), S. 4.

[418] Vgl. Friedrich Stadler: Studien zum Wiener Kreis. Ursprung, Entwicklung und Wirkung des Logischen Empirismus im Kontext, Frankfurt am Main 1997.

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